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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Horwood
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Kopf voll mit Gelehrtenwissen der nutzlosen Art und absonderlichen Gedanken, die am besten niedergehalten werden. Wie zum Beispiel: Ist das Aufregendste, was diesem Band, in den seit achthundert Jahren nur zwei oder drei Leute einen Blick geworfen haben, jemals widerfahren ist, dass er von Bücherwürmern benagt und von Feuer angesengt wurde?
    »Was tun Sie eigentlich?«, fragen ihre Bekannten beunruhigt.
    »Ich ... nun ja, ich ...« Aber die verständnislose Miene ihres Gegenübers bringt ihre Erklärung ins Stocken, und was sie sagen, ergibt selten einen Sinn.
    Für solche Leute sind spätere oder kürzere Öffnungszeiten imWinter oder, was noch viel schlimmer ist, vorübergehende Schließungen schwere Prüfungen, die im Lauf der Jahre ausgestanden werden müssen, während ihr Haar grau und ihre Haut noch blasser wird, ihre Muskeln erschlaffen, Teile ihres Verstandes ungenutzt bleiben und ihre Gefühle veröden.
    Bis etwas geschieht, und ihre Welt sich vorübergehend in etwas Anderes, Neues verwandelt.
    Ein Hochwasser etwa – das ist etwas Neues.
    Ein Tumult im Lesesaal – das ist aufregend.
    Das altersbedingte Ausscheiden einer geliebten Bibliothekarin, sofern Liebe zwischen den Bücherregalen überhaupt möglich ist, fahl und unausgesprochen, wie sie bleiben muss – das ist traurig.
    Danach kehrt der Alltag zurück, und es vergehen abermals ein, zwei oder drei Jahre, bis wieder etwas Aufregendes und Neues geschieht, das ihr Jahr rettet.
    Oder es stürzt, was noch seltener vorkommt, vielleicht einmal in zehn Jahren, ein Teil des Bibliotheksdachs ein. Das ist ein denkwürdiges Jahr.
    Durch Fahrlässigkeit und das Zusammenwirken unglücklicher Umstände bricht etwa alle fünfzig Jahre ein Brand aus oder ein Leser verliert den Verstand.
    Selbst das sind gute Nachrichten.
    Nur einmal in hundert Jahren, oder vielleicht auch nur einmal in fünfhundert Jahren, geschieht etwas wahrhaft Schreckliches, etwas so Schreckliches, dass Leser wie diese es nicht ertragen können. Deshalb leugnen sie es. Sie kommen am nächsten Tag wieder, als sei gar nichts geschehen und alles in bester Ordnung.
    Sie leugnen, dass sich manchmal das Leben und ihre Welt für immer verändern, dass ganz Hyddenwelt nie wieder so sein wird wie zuvor.
    Ein paar Minuten vor neun an diesem Morgen, als der Regen der Nacht noch aus tiefhängenden Wolken fiel, drängten sich die traurigen Leser von Brum unter dem Schutzdach am Eingang der großen Bibliothek und warteten schweigend darauf, eingelassen zu werden.
    Da Sonntag war und eine grassierende Grippe zwei junge Gehilfen zwang, wegen Fiebers das Bett zu hüten, versuchten BibliothekarThwart und die wenigen anderen, die zur Arbeit erschienen waren, die Bibliothek auf den anstehenden Tag vorzubereiten: Sie schlossen Türen auf, entzündeten Lampen, nahmen Aufräumarbeiten vor, die eigentlich am Vorabend hätten getätigt werden müssen, lüfteten Räume, prüften, ob genug Papier und Bleistifte vorhanden waren und ob die Kästen zum Ablegen von Karten an Ort und Stelle standen.
    So viel zu tun und so wenig Zeit, denn Schlag neun mussten die Türen geöffnet werden, auch wenn das bedeutete, dass manches ungetan oder halb getan blieb. Die traurigen Leser mussten eingelassen werden, denn seltsamerweise war es ihre Existenz, die den Bibliothekaren ihre Daseinsberechtigung gab.
    An diesem Tag oblag es Thwart, die große Eingangstür zu öffnen. Damit war mehr verbunden, als einfach nur einen Schlüssel umzudrehen. Es gab Riegel auf beiden Seiten, oben und unten, und bei nasser Witterung klemmten sie. Außerdem mussten eine große, schwere Fußmatte vor die Tür gelegt und ein Ständer für Mäntel, ein zweiter für Rucksäcke und ein dritter für Hüte aufgestellt werden.
    Als dies getan war und die Uhr in der Bibliothek neun schlug, zog Thwart die Tür auf und ließ die traurigen Leser herein. Er kannte sie alle vom Sehen, manche beim Namen.
    Als auch dies getan war, hätte er in die Bibliothek zurückeilen und Versäumtes nachholen können. Doch in diesem Augenblick sah er einen Mann, der trotz des Regens mit großen Schritten und wehender Kutte über den Platz kam, in der Hand einen Knüppel so groß wie er selbst, das Haar glatt nach hinten gekämmt und klatschnass.
    Thwart brauchte einen Augenblick, ehe er Slew erkannte, den er bisher nur in der Bibliothek gesehen und als bescheidenen, höflichen und umgänglichen Gelehrten kennengelernt hatte. Die Gestalt, die er jetzt sah, machte einen ganz anderen

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