Das Erwachen
allzu eifersüchtig über ihre Welt und deren Schätze. Sie sollen sie mit anderen teilen und nicht für sich allein beanspruchen!«
Ein edler Standpunkt, aber Pike witterte Gefahr und Ungemach.
Die nächste naheliegende Frage hatte er gar nicht gestellt, nämlich was Slew in der Bibliothek eigentlich tat. Das war Pike nicht so wichtig erschienen wie das, was er außerhalb unternahm. Seine Nachforschungen hatten sehr schnell erbracht, dass Slew einen strengen Tagesablauf einhielt, regelmäßig die Bibliothek besuchte und dort viele Stunden zubrachte, aber mehr auch nicht.
Da er also nichts Greifbares in der Hand hatte und Brif, der heute seinen freien Tag hatte, nicht mit seinen üblichen Sorgen um die Sicherheit Brums behelligen wollte, stattete er einem anderen leitenden Bibliothekar an seinem freien Sonntag einen Besuch ab.
»Ich kenne den Mann. Ernst von der Gesinnung, aber nicht besonders geistreich und beileibe kein bedeutender Gelehrter. Allerdings durchaus ehrenwert, würde ich sagen.«
»Womit beschäftigt er sich?«
»Mit den Jahreszeiten, insbesondere dem Frühling. Kaum überraschend, wenn man an Bedwyn Storts große Entdeckung denkt. Für dieses Thema interessiert sich im Augenblick jeder, wenngleich wenige eine solche Beharrlichkeit an den Tag legen wie unser Bruder Slew. Aber da wir gerade davon sprechen: Wann bekommen wir endlich den Stein zu sehen, den Stort gefunden hat?«
Pike säumte nicht länger.
Zunächst vergewisserte er sich, dass Slew gerade in der Bibliothek weilte, dann begab er sich in dessen Herberge und sprach mit seinen Mitreisenden. Ihm war klar, dass Slew, sobald er nach Hause kam, von diesen Nachforschungen erfahren und folglich gewarnt sein würde, falls er tatsächlich etwas im Schilde führte.
Pike beschloss, doch mit Brif zu sprechen. Während er auf dem Weg zu ihm war, dämmerte ihm plötzlich die schreckliche Wahrheit. Bevor Stort abgereist war, hatte Pike noch einmal mit ihm über den Stein gesprochen. Dabei war er zu der Überzeugung gelangt, dass es das Sicherste war, Stort zu überlassen, wo er den Stein während seiner Abwesenheit verstecken wollte. Vielleicht ließ er sich ja nach seiner Rückkehr dazu überreden, ihn in die Obhut der Stadt zu geben, aber vorher war er mit Sicherheit nicht bereit, sich davon zu trennen.
Immerhin hatte Stort eingewilligt, den Stein nicht mitzunehmen, und plötzlich gesagt, er kenne ein Versteck, wo er vollkommen sicher sei. Niemand könne dort an ihn heran außer ihm selbst und einer einzigen anderen Person, und diese andere Person (deren Namen er nicht nannte) werde das Versteck niemals verraten.
»Dann werden Sie diese Person einweihen?«
Dazu bestehe keine Notwendigkeit, hatte Stort geantwortet. Sollte ihm etwas zustoßen, werde die oder der Betreffende ganz bestimmt von allein dahinterkommen.
Pike hatte sich von Storts schelmischer Andeutung, es könne sich auch um eine Sie handeln, narren lassen. Aber natürlich gab es keine Sie. Die einzige Frau, mit der Stort zu tun hatte, war Cluckett, und die kannte er mit Sicherheit noch nicht lange genug, um ihr ein so bedeutendes Geheimnis anzuvertrauen.
Somit war ziemlich offensichtlich, wer diese andere Person war – Master Brif, Storts früherer Mentor.
Und ebenso offensichtlich war, wo Stort den Stein versteckt hatte: in der Bibliothek und höchstwahrscheinlich in dem Teil, den er am besten kannte.
Brifs Wohnung grenzte an die Bibliothek, und Pike eilte durch den Regen dorthin, die Hand fest auf seinem Knüppel. Diese ganze Geschichte war ihm in höchstem Maße verdächtig.
Brif war nicht zu Hause. Er hatte sich kurzentschlossen in die Bibliothek begeben.
»An einem Sonntag?«
»Es ist das erste Mal, soweit ich zurückdenken kann«, erklärte Brifs Haushälterin, »aber er sagte, es sei dringend. Er hat sogar seinen Amtsknüppel mitgenommen. Auch das ist ungewöhnlich!«
Pike verfluchte sich und rannte in die Bibliothek.
»Wo ist Master Brif?«, fragte er einen erschrockenen Bibliothekar.
»Er ist in den Keller gelaufen, Mister Pike, und er hatte es ebenso eilig wie Sie. Ist etwas geschehen?«
Alle blickten Pike an, von den Bibliothekaren bis hinunter zum verschlossensten traurigen Leser.
»Nein«, antwortete Pike, aber das stimmte offensichtlich nicht.
Slew trat zurück, nachdem er das Tuch ein zweites Mal vergeblich nach dem Stein abgesucht hatte, und versuchte es mit anderen Augen zu sehen.
Er hatte bisher nur die Naturdarstellungen betrachtet und den Figuren
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