Das Erwachen
in der Landschaft kaum Beachtung geschenkt.
Nun fragte er sich, ob nicht vielleicht hier die Lösung lag – sie waren unauffälliger und sprangen daher weniger ins Auge.
Eine junge Frau, ein junger Mann, eine Hochzeitsgesellschaft – und darunter ein älteres Paar, vermutlich die Eltern ... alles im Frühling.
Liebende und ihre Eltern?
Jedenfalls die Schließung einer Ehe, aus der neues Leben erwachsen konnte.
Im Sommer waren sie älter, Kinder waren geboren, das Leben war gut und erfüllt, der Sommer ihres Lebens – wessen Lebens? Slew versuchte die Geschichte zu verstehen. Er fragte sich, welche dieser Figuren es Stort angetan oder seine Fantasie beflügelt haben konnte, als er ein Versteck für den Stein gesucht hatte, dessen magische Schwingungen es umso schwerer machen würden, ihn zu finden ...
Slew riss sich von den Bildern los. Er spürte, wie sie in sein Inneres drangen, oder vielmehr, wie er in sie hineingezogen wurde wie in ein Spiel, das kein Spiel von Licht und Schatten, sondern von Farben und Leben war.
Er griff wieder nach dem Lederbeutel, um noch einmal zu prüfen, ob sich der Stein nicht doch darin befand. Er tat es nicht.
Aber war das nicht für sich schon ein Hinweis?
Er wandte sich wieder den Stickereien zu und betrachtete den Herbst.
Ein Fluss, das Laub an seinen Ufern verfärbt, die Liebenden aus dem Frühling, die im Sommer Eltern geworden waren, schienen jetzt verzweifelt.
Jemand oder etwas war gestorben. Herbst war, wenn die ganze Welt zu sterben begann.
Slew dachte an die magischen Herbste seiner Jugend in Thüringen, an seine Mutter, ihre Sorgen, ihre Anteilnahme an anderen, und er empfand ihren Verlust wie das Fallen von Laub, wie einen unwillkommenen Wind.
Eine alte Schwermut überkam ihn, die auch seine Schattenkünste nicht lindern konnten.
Schlau.
Stort war schlau.
Er hatte den Stein an einem Ort versteckt, den aufzusuchen den meisten schwerfallen würde.
Mutig, das war er. Und findig. Und nun erwies er sich auch noch als listig.
Stort war kein gewöhnlicher Gegner.
So, und wohin würde jemand mit fortschreitenden Jahren, wenndie Jahreszeiten seines Lebens vorüberzogen, nicht gehen wollen? Was würde er nicht sehen wollen?
Seinen Tod und seinen Winter, selbstverständlich.
Slew musste sich abstützen, denn seine eigene Schatten machten ihn frösteln, griffen nach seinem Herzen, versuchten ihn aufzuhalten – wirklich schlau, dieser Bedwyn Stort.
Er riss sich wieder los, merkte, dass er den Beutel noch in der Hand hielt, und steckte ihn in die Tasche. Dann wandte er sich wieder dem Frühling zu, um festzustellen, ob eine der Figuren einen solchen Beutel bei sich trug. Er waren so viele, mehr, wie ihm schien, als beim ersten Betrachten. Sie drängten sich auf der Hochzeit, lachten, Junge und Alte.
Dann entdeckte er sie.
Ein Mädchen, das sich hinter seinen Eltern versteckte und die Hochzeit durch das Gitter ihrer Arme und Beine beobachtete. An seinem Gürtel hing ein Beutel wie der, der in Slews Tasche steckte.
Er strich mit der Hand über die Stickerei, die bezaubernder war als alle, die er jemals gesehen hatte. Dabei versuchte er zu ertasten, ob der Beutel etwas enthielt, als sei er real.
Er spürte nur Stiche, und eine noch größere Traurigkeit überkam ihn. Konnte das Mädchen ihn sehen? Es kam ihm so vor. Bildete er sich nur ein, dass ihre Augen auf ihn gerichtet waren? Ja, ja. Er sah verzweifelt weg.
Er wusste jetzt, wo der Stein sein musste, aber um dorthin zu gelangen, würde er die Jahreszeiten ihres Lebens durchwandern müssen, und das wollte er nicht, jetzt nicht, niemals.
Auch im Sommer war sie da. Wieder halb verborgen, spähte sie hinter einem Brombeergestrüpp mit blutroten und schwarzen Früchten hervor, ohne Eltern, allein, zornig. Der Beutel hing an ihrem Gürtel, und als Slew ihn berührte, stach er ihn wie ein Dorn, was eigentlich unmöglich war, denn er war ja nur aus Stoff. Dennoch tat es weh.
Slew fühlte sich müde und verloren, wie sie, des Lebens überdrüssig, wie sie. Einsam und allein.
Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, und er wollte nicht weitermachen. Er wollte den Stein dort belassen, wo Stort ihn so klug versteckt hatte. Er gehörte nicht ihm, sondern ihr, er sollte nicht von einem Sterblichen berührt werden, nicht von ihm.
Als er beim Herbst anlangte, glaubte er in der Menge Sinistrals Augen zu sehen. Sie befahlen ihm, fortzufahren, und er gehorchte, suchte nach dem Mädchen, das nun eine Frau und in die
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