Das Erwachen
der Einzige, der sich Slew in den Weg stellen konnte.
Das Licht des Frühlings war in seine sterbenden Augen gefallen, war bis in seine Seele gedrungen, die vom Leben weichen wollte, und hatte sie zurückgeholt. Thwart kam wieder zu sich und war entsetzt.
Er sah seinen Meister kämpfen.
Er sah einen dunkleren Meister, der in der einen Hand einen Knüppel, in der anderen ein besticktes Tuch hielt. Von dem Stein wusste er nichts.
Thwart hätte liegen bleiben können, hätte sich tot stellen können, statt ein weiteres Mal sein Leben zu riskieren.
Doch er sah Chaos, wo Ordnung herrschen sollte, und er sah den größten und beliebtesten Gelehrten seiner Zeit gegen einen Hydden kämpfen, der jünger und stärker war als er.
Und so stand er auf, und obwohl er schwach war und sich fürchtete, fasste er den Mut, den Schattenmeister herauszufordern.
Slew drehte sich zu ihm um, sah ihn verwundert an und trat vor, um ihn auf der Stelle zu töten.
Niemand verstand, warum er es nicht tat, weder damals noch später, am allerwenigsten Thwart selbst. Vielleicht lag es an der Besitzerin des Steins, an ihrer Traurigkeit, die Slew bei der Reise vom Frühling zum Winter gespürt hatte. Vielleicht brachte er es deshalb nicht über sich, Thwart noch einmal wehzutun. Vielleicht sah er tief in sich, irgendwo in seinem finsteren, gekränkten Herzen, das Bessere.
Vielleicht rettete auch Brif Thwart das Leben, als er brüllte: »Nehmen Sie mich, aber tun Sie ihm nichts. Er hat noch sein ganzes Leben vor sich. Nehmen Sie mich.«
Slew wandte sich wieder Brif zu, erkannte, dass dieser ihm den Weg versperrte, den er nehmen musste, um den Schrecken dieses Ortes zu entfliehen. Er hob seinen dunklen Knüppel und tanzte wie ein Schatten, mal in die eine, mal in die andere Richtung. Der Hieb, den er gegen Brif führte, war gewaltig und kraftvoll. Gegen dergleichen war kein Kraut gewachsen.
Der zweite Hieb war noch schlimmer, ein tödlicher Schlag auf Brifs alten Kopf.
Der dritte und der vierte zielten auf des Meisterschreibers Brust, auf sein Herz.
Als Brif zwischen seinen geliebten Büchern zusammenbrach, stieg Slew über ihn hinweg, eilte zur Treppe, huschte die Stufen hinauf wie der Schatten eines Hydden, der er wirklich war, durchmaß die Bibliothek und verließ sie durch die Tür.
Pike sah ihn nicht.
Niemand sah ihn.
Er verschwand in den Gassen und Straßen des berühmten Brum, ließ seine Kutte zurück und trug seinen dunkeln Knüppel vor sich her.
Thwart überlebte.
Pike fand ihn in den Schatten, die der Mörder hinterlassen hatte. Er hielt seinen sterbenden Meister in den Armen.
Pike folgte seinem Beispiel, verzweifelt, weil er nicht zur Stelle gewesen war, um den Hydden, den er von allen auf der Welt am meisten achtete und liebte, zu schützen.
»Er hat mir das Leben gerettet«, sagte Thwart.
Brif regte sich. Mit seinem letzten Atemzug sagte er: »Nein, nein ... Sie haben sich selbst gerettet und den wahren Weg gefunden, auf den die Wurd Sie führen wird. Haben Sie Vertrauen und folgen Sie ihm, so wie ich meinem gefolgt bin. Leben Sie Ihr Leben, Thwart, nutzen Sie sinnvoll jede Sekunde. Das ist der einzige Weg.«
»Ich will es versuchen, Master Brif.«
»Das weiß ich ...«
Dann wandte er sich an Pike. »Alter Freund, stellen Sie sich vor, ich habe den Stein des Frühlings gesehen. Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen ...«
Als Brif starb, so heißt es, ging ein qualvolles Stöhnen durch die Bibliothek, die er sein Leben lang gehegt hatte.
Es heißt, sie sei vor Kummer und Leid erbebt ...
So heftig, dass fortan ihre Türen nicht mehr richtig schlossen und sein überragender Geist, nun für immer frei, kommen und gehen konnte, wie es ihm beliebte.
In gewisser Weise war alles wahr.
Denn als Brif starb, brach das schwere Erdbeben über Brum herein, das sich in den Erdstößen der vorangegangenen Wochen angekündigt hatte. Viele Gebäude schienen zu erzittern, zu wanken und zu stöhnen. Viele stürzten ein, und in den Trümmern starben Menschen und Hydden gleichermaßen.
Was die Tür der Brumer Bibliothek anbetraf, so schloss sie tatsächlich nie wieder richtig.
29
ERDBEBEN
D as Erdbeben, das Brum in Brifs finsterer Todesstunde zerstörte, war eines von vielen, die Englalond und ganz Europa an diesem und in den folgenden Tagen heimsuchten.
Zusammen genommen ließen diese Ereignisse in den Köpfen der Hydden keinen Zweifel daran, dass Mutter Erde zürnte und Rache nahm für die mangelnde Achtung der Sterblichen
Weitere Kostenlose Bücher