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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Horwood
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Jahre gekommen war: unerfüllt, zornig und verloren, und traurig, sehr traurig.
    Der Beutel, den sie trug, war leer, ohne jedes Leben, ohne Hoffnung, ohne den Stein, und Slew war außerstande, weiterzumachen.
    »Öffnen Sie die Tür!«
    Es war Master Brif, nur wenige Meter hinter ihm auf der anderen Seite der Gittertür. »Was tun Sie da? Was haben Sie getan?«
    Brif hatte Thwart entdeckt, der auf dem Boden lag, den Kopf in einer Blutlache, die Augen offen, aber ohne Blick.
    »Was haben Sie getan?«
    Das Gebrüll brachte Slew wieder zu sich, auch wenn seine Schwermut blieb.
    Er verbannte Brif aus seinen Gedanken, kehrte zu seiner Aufgabe zurück und wandte sich den Stickereien des Winters zu.
    Es war nicht schwer, sie zu finden, allein am Ende des Winters. Alle anderen waren fort, alles Leben erloschen. Ganz allein wanderte sie über einen kargen Gebirgspass, dessen Gipfel ein Schneesturm verhüllte. Er berührte sie, aber es fiel ihm schwer, sehr schwer, in ihre Einsamkeit vorzudringen.
    Der Beutel hing, wo er immer hing, an ihrem Gürtel, aber er war jetzt alt und abgenutzt, die Nähte mürbe und gebrochen. Auch sie selbst war gebrochen nach der grausamen Reise durchs Leben, zornig von Anfang bis Ende, ihr Blick leer, ihre Gestalt gebeugt, eine alte Frau, die an Leib und Seele litt, ungeliebt, auf den Höhen des Gebirges, ausgekühlt von den kalten Winden, starr von Eis und Schnee.
    So raffiniert war das Bild, so eindringlich die Darstellung, dass ihm alles, was er sah, real vorkam und die alte Frau direkt vor ihm zu stehen schien, bemitleidenswert und allein.
    Es war, als wollte er sie persönlich bestehlen und nicht nur einen klug versteckten Stein finden. Und damit nicht genug. Überdies schien es ihm, als versetzte ihn das Tuch in eine düstere Realität, in eine zukünftige Geschichte, an einen Ort, an dem er nicht sein wollte.
    Aus all diesen Gründen warnte ihn sein Instinkt davor, die Suche nach dem Stein fortzusetzen. Doch dann entdeckte er etwas. Nicht auf oder in ihrem gewebten Beutel, sondern versteckt in ihrer Hand,ein Schimmern im trüben Licht. Er griff danach und zog. Es war das erste Glied einer Kette, die hinter der Hand und dem Beutel hervorglitt: eine Kette, an der ein Anhänger befestigt war. An dem Anhänger fehlten alle Steine bis auf einen, und der war auf den ersten Blick unscheinbar. Slew zog die Kette vollends heraus und nahm der Frau damit die letzte Hoffnung.
    Traurig und voller Ehrfurcht betrachtete Slew den Stein. Er machte nicht viel her. Nur ein kleiner grauer Stein an einem zerbeulten alten Anhänger. Dafür war er so weit gereist? Weiter als über das Meer mit Borkum Riff.
    Weiter als durch ein ganzes Leben.
    Für diesen Stein?
    Dann plötzlich begann er zu glimmen, wurde von einem Licht durchzuckt. Der Anhänger wand und drehte sich in seiner Hand, erwachte zum Leben und leuchtete so hell auf, dass Slew geblendet wurde.
    Er taumelte rückwärts, stürzte zu Boden, und der Stein mit der Fassung kullerte davon. Die gefährlichen grünen Strahlen strichen über Thwarts stumpfe Augen, spiegelten sich in denen Slews, drangen durch tausend Bücher, wurden zurückgeworfen, tanzten immer wilder hin und her.
    Er griff nach dem Stein, und mit einer gewaltigen Willensanstrengung umschloss er ihn mit seiner großen Hand, erstickte Strahl um Strahl, bis keiner mehr nach außen drang. Dann steckte er ihn in den Beutel, und sogleich wurde es wieder dunkel.
    Augenblicke später flog krachend die Gittertür auf. Brif hatte einen zweiten Schlüssel geholt.
    Da stand er – kühn in seiner Amtstracht, zornig und wachsam, in der Hand den Dienstknüppel, in dessen alten Schnitzereien noch die Feuer des Frühlings glommen.
    Aber Slew hatte den Vorteil der Jugend.
    Er ergriff seinen dunklen Knüppel und beobachtete, wie Brif zum Schlag ausholte.
    Er bewegte sich, der Knüppel verfehlte ihn.
    Er bewegte sich ein zweites Mal, und der Knüppel verfehlte ihn wieder.
    Brif hatte schon einmal gegen die Schatten gekämpft und gesiegt, mehr oder weniger.
    Doch diesmal war es anders.
    Auch Slew war ein Meister, und der Stein, den er bei sich trug, verlieh ihm zusätzliche Kräfte.
    Wäre Brif etwas früher auf Slew gestoßen, als dieser noch traurig und verwirrt gewesen war von der Reise über das bestickte Tuch und der Suche nach dem Stein, hätte er ihn vielleicht besiegen können.
    Wäre Pike früher in die Bibliothek gekommen, dann wäre die Wurd der Dinge vielleicht eine andere gewesen.
    So aber war Thwart

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