Das Erwachen
Willenskraft. Er drehte sich um und knurrte in Richtung seiner ehemaligen Meute, deren Mitglieder sich bereits mit eingezogenen Schwänzen und zitternden Flanken trollen wollten. Sie blieben stehen, blickten zu ihm herüber und warteten.
Ob er trotz allem noch eine Möglichkeit fand, seine Stärke unter Beweis zu stellen?
Er selbst glaubte es, und mit einem tiefen Knurren, gesträubtem Nackenfell und gefletschten Zähnen schlich er langsam auf Stort zu. Auch die anderen Hunde, selbst der große Pit Bull, blieben stehen und sahen zu. Zusehen, wie jemand getötet wurde, besonders ein Hydden, lohnte sich immer.
Wieder knurrte der Labrador, dem Angstgeruch in die Nase stieg. Er verfiel in Trab.
Stort fühlte sich wie in seinem schlimmsten Alptraum gefangen.
»Hilfe!«, wollte er rufen, brachte aber nur ein Krächzen zustande, denn seine Kehle war wie zugeschnürt. Jetzt blieb ihm nur noch eins: Er bückte sich, hob ein kurzes Stück seines zerbrochenen Knüppels auf und hielt es mit zitternder Hand vor sich.
Der große Hund wurde schneller. Seine Pfoten trommelten über den Boden, und sein Knurren klang siegesgewiss.
Stort dämmerte, dass ihm der Knüppelstummel nicht helfen würde. Da ihm nichts Besseres einfiel, riss er sich den Rucksack vom Rücken, hielt ihn wie einen Schild vor sich und wich rückwärts in die Lücke zurück.
»Hilfe!«, krächzte er wieder, doch es kam keine Hilfe.
Der Angreifer, irritiert durch den Rucksack, verlangsamte seineSchritte. Der Haufen seiner ehemaligen Anhänger bedrängte ihn von hinten. Jeder wollte an ihm vorbeischlüpfen, um als Erster die Zähne in Storts sommersprossiges Fleisch zu schlagen.
Aber ihr früherer Rudelchef war groß und breit. Nicht umsonst war er Rudelchef gewesen.
Er scheuchte sie mit einem Knurren zurück, riss mit den Zähnen große Fetzen aus dem Rucksack und sog dabei den verlockenden Geruch Storts ein, der sich immer tiefer in den Spalt quetschte. Hoffnungslos in der Falle, ohne Aussicht auf Rettung, zog Stort den Rucksack näher zu sich heran.
In diesem Augenblick, den er für den letzten seines Lebens hielt, fiel sein Blick auf eine Außentasche des Rucksacks, auf die Cluckett fürsorglich »Für Notfälle« geschrieben hatte. Wenn dies kein Notfall war, was dann?
Er öffnete die Tasche und zog nacheinander heraus, was sie enthielt.
Ein Stück Schnur. Unbrauchbar.
Eine kleine Binde. War Cluckett von allen guten Geistern verlassen?
Ein Löffel. »Wohl eher nicht«, stöhnte Stort verzweifelt.
Eine Wäscheklammer. Stort entfuhr ein irres Lachen.
Der Hund kam immer näher.
Stort förderte weiteren Krimskrams zutage. Im vorliegenden Notfall war nichts davon zu gebrauchen. Er grub noch tiefer, warf, was er fand, in die Luft, und rief: »Nutzloser Firlefanz, Cluckett!«
Bis nichts mehr übrigblieb, nichts, woran er eine Hoffnung knüpfen konnte, bis auf ... bis auf ... ganz unten am Boden, was war das?
Ein Stück Papier? Cluckett war nicht nur von allen guten Geistern verlassen, sie hatte komplett den Verstand verloren!
Er zog es heraus und glotzte es verwundert an.
Es war ein Umschlag, und darauf stand, in seiner Handschrift, die Zahl 63.
Derweil löste sich der Rucksack vollends auf. Stort spürte heißen Atem an den Beinen und dann eine Hundezunge, die ihn beleckte, als suche sie geeignetste Stelle zum Hineinbeißen.
»Was ist das?«, rief er und hielt den Umschlag ans Licht, da ihm partout nicht einfallen wollte, was er enthielt oder warum ... oder warum ...
Es war sein dreiundsechzigster Versuch, das unmöglich Scheinende zu vollbringen, nämlich ein Pulver herzustellen, das einen bissigen Hund in die Flucht schlug, wenn man es ihm ins Gesicht schleuderte. Und in diesem Sinne und mit einer dramatischen, todesverachtenden Geste riss er den Umschlag auf und warf der Bestie vor ihm das Hundeschreckmittel ins Maul.
Ein Augenblick verdutzter Stille folgte. Auf geheimnisvolle Weise teilte er sich auch der gesamten knurrenden Meute dahinter mit, die gleichfalls verstummte.
Dann schluckte der Hund das Pulver, samt Umschlag und allem. Er schluckte ein zweites Mal, wich einen Schritt zurück und schleckte sich das Maul, als hätte er gerade einen Eisbecher verspeist und könnte gar nicht genug davon bekommen.
Dann geschah etwas Sonderbares: Ein verträumter Blick trat in die Augen des großen Hundes. Er schaute sich um wie jemand, dem eine erleuchtende Idee gekommen und gleich wieder entfallen war. Er blickte in Storts Augen, die ihm fast
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