Das Erwachen
Fuchs , unsicher, aber nicht ängstlich, zögerte, setzte die Pfoten mal hierhin, mal dorthin, ließ Judith nicht aus den Augen.
Du bleibst!
Der Fuchs wich zwischen zwei Bäume des Henges zurück.
Zu Judiths Linker klirrten die Windspiele.
Hoch über ihr schimmerten und flimmerten die Bäume. Sie verlangsamte ihre Schritte, spürte oben und unten, auf allen Seiten das Leben der Erde.
Sie wollte Pipi machen, auf den Boden, ins Gras und in die Erde, und so tat sie es, neben den Rhododendren, und lauschte den Windspielen und den Vögeln, die durchs Gebüsch flitzten und über ihr durch die Luft schwirrten, während sie dahockte.
Erleichtert stand sie auf, ließ das Nachthemd an ihren Beinen hinabfallen und wusste, was sie wollte.
Sie ging zum Eingang des Henges, blieb dort im Schutz ihrer beiden Lieblingsbäume stehen und spähte zwischen ihnen hindurch zu dem weißen Pferd auf dem Hügel. Es schien niemals aufzuhören, sich zu bewegen.
»Herr Fuchs«, flüsterte sie, ohne den Blick von dem Pferd zu nehmen, »du bleibst da.«
Auch Herr Eichhorn war da, und die Ameisen, die dort, wo das Gras endete und die Kiefernnadeln begannen, über ihre Füße krabbelten.Die Taube war da, deren Gurren zwischen den Bäumen hallte wie in einem hohen Raum, und das Pferd, das Judith keine Sekunde aus den Augen ließ. Alle waren da.
Doch nur das Pferd blieb bei ihr, während die Ameisen wieder von ihren Füßen huschten und die Taube durch das Geäst des Henges davonflatterte.
Judith lächelte.
Keine Schmerzen, nur in der Welt stehen.
Sie wollte rennen und tanzen, einen Purzelbaum schlagen, mit jedem Fuß, jeder Hand, dem Kopf und ihrem langen dunklen Haar die Erde berühren, den Himmel, die Bäume, die Blätter und das Fell von Herrn Fuchs, aber sie konnte nicht.
Sie vermisste etwas, das sie noch nie vermisst hatte.
Etwas anderes als Dad und Mom, als Margaret und Arthur.
Sie spürte keinen Schmerz, doch sie empfand eine Sehnsucht nach etwas, das ihr fehlte.
Sie wusste nicht, wie es hieß oder ob es überhaupt existierte.
Sie hatte kein Wort dafür.
Das Wort war »Freund«.
Jack erwachte, streckte sich und stand auf, wie er es meistens tat, ohne Zögern. Rein in die Turnschuhe und ran an den Tag.
Er ging nach unten. Von der Treppe aus entdeckte er in der Diele feuchte kleine Fußabdrücke, die in seine Richtung führten. Verwundert runzelte er die Stirn.
Er besah sich den Teppich auf der Treppe. Die Abdrücke führten zu ihm herauf, weiter nach oben und an seiner Zimmertür vorbei. Von unten wehte ein Luftzug heran. Irgendwo musste eine Tür offen stehen.
Er machte kehrt, stieg die Stufen wieder hinauf und öffnete sachte Katherines Tür.
Der übliche Haarschopf am Kopfende des Bettes, tiefe Atemzüge, und auf ihrem Rücken Judiths Arm. Er sah genauer hin. Unter der Decke schauten zwei kleine Füße hervor, an denen Gras und Kiefernnadeln klebten.
Er betrachtete sie und ihre sanften rosa Wölbungen, das Gras und die Nadeln an den Ballen und zwischen den Zehen, und fragte sich,ob er jemals in seinem Leben eine solche Liebe für jemanden empfunden hatte wie in diesem Augenblick für Judith. Eine Aufwallung von Liebe, die so mächtig war, dass sie ihm den Atem nahm. Am liebsten hätte er ihren Fuß berührt, doch er tat es nicht. Sie schlief so tief, wirkte so frei und wild, wie sie dalag, und er liebte sie so sehr.
Er trat ans Fenster und schaute hinaus.
Er sah ihre Fußspuren im Gras. Sie bildeten ein Dreieck.
Von der Terrasse zu den Rhododendren, dann zu den beiden Koniferen und zurück zum Haus.
Er verließ leise das Zimmer, ging hinunter in den Wintergarten, entdeckte den Stuhl, zählte zwei und zwei zusammen, schüttelte den Kopf, schmunzelte und trat ins Freie, so wie sie es getan hatte. Dort kickte er die Turnschuhe von seinen Füßen und lief barfuß durchs Gras.
Er ging geradewegs zu den beiden Bäumen, blieb stehen, wo sie gestanden hatte, roch den Fuchs und sah das weiße Pferd. Er betrachtete das Pferd, so wie sie es getan hatte, stellte sich vor, wie es sich bewegte, so wie sie es getan hatte und auch er selbst schon viele Male.
Er konnte noch so viel Stacheldraht spannen und Zäune bauen, alle Türen absperren, das Tor zur Straße schließen, noch so viel achtgeben, sich noch so große Sorgen machen – sie hatte begonnen, die Welt zu erforschen. Er würde sie nicht daran hindern können und wollte es auch gar nicht. Die Zeit lief ihnen davon, sehr schnell. Man wurde in die Welt geboren, um zu
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