Das Eulenhaus
sei toll und mache einen unabhängig. In einem Laden kriegt man entschieden mehr Unverschämtheiten ab als Gudgeon oder Miss Simmons oder überhaupt alle anständigen Dienstboten.«
»Es muss grässlich sein, Schatz. Wenn du bloß nicht so heldenmütig und stolz wärst und unbedingt dein Geld selbst verdienen wolltest!«
»Na, jedenfalls ist Lucy ein Engel, und ich werde gegenüber allen an diesem Wochenende mit Grobheiten glänzen.«
»Wer kommt denn alles?« Henrietta stieg aus.
»Die Christows«, Midge machte eine kleine Pause, »und Edward ist gerade gekommen.«
»Edward? Ach, schön. Edward habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Sonst noch jemand?«
»David Angkatell. Und laut Lucy ist das ein Fall, bei dem du dich nützlich machen kannst. Du darfst ihn vom Nägelkauen abhalten.«
»Das passt aber gar nicht zu mir«, sagte Henrietta. »Ich hasse Einmischung in anderer Leute Angelegenheiten und würde im Traum nicht daran denken, ihre Marotten zu unterdrücken. Was hat Lucy wirklich gesagt?«
»In etwa genau das! Außerdem hat er einen Adamsapfel!«
»Dagegen soll ich aber nicht auch noch etwas tun, oder?«, fragte Henrietta entsetzt.
»Und du sollst freundlich zu Gerda sein.«
»Ich würde Lucy hassen wie die Pest, wenn ich Gerda wäre!«
»Und dann kommt noch jemand, der Verbrechen aufklärt, morgen Mittag zum Essen.«
»Wir spielen aber nicht schon wieder dieses Mörderspiel, nein?«
»Ich glaube nicht. Ich glaube, da geht es bloß um gute nachbarliche Beziehungen.« Midges Stimme bekam eine andere Färbung. »Edward kommt und will uns guten Tag sagen.«
Der liebe Edward, dachte Henrietta und spürte plötzlich eine Welle warmer Zuneigung.
Edward Angkatell war sehr lang und schlaksig. Er kam lächelnd auf die beiden Frauen zu. »Hallo, Henrietta – wir haben uns über ein Jahr lang nicht mehr gesehen.«
»Hallo, Edward.«
Was für ein netter Kerl! So ein sanftes Lächeln, mit all den kleinen Fältchen um die Augen. Und seine knubbeligen Knochen. Ich glaube, seine Knochigkeit ist es, was ich so mag, dachte Henrietta. Sie wunderte sich, wie warm ihre Zuneigung war. Sie hatte ganz vergessen gehabt, dass sie Edward so gern hatte.
Nach dem Essen sagte er zu ihr: »Lass uns spazieren gehen, Henrietta.«
Es wurde ein Spaziergang nach Edwards Art – langsam und schlendernd.
Sie stiegen hinter dem Haus den Hügel hoch, entlang dem Weg, der sich zickzackartig durch die Bäume schlängelte. Ein Wald wie der in »Ainswick«, dachte Henrietta. Das wunderbare »Ainswick« – was hatten sie da für Spaß gehabt! Henrietta lenkte das Gespräch auf »Ainswick«, und dann schwelgten sie in Erinnerungen.
»Weißt du noch, unser Eichhörnchen? Das mit der gebrochenen Pfote? Das wir im Käfig wieder aufgepäppelt haben?«
»Ja klar. Das hatte doch so einen albernen Namen – wie hieß das noch?«
»Cholmondeley-Marjoribanks!«
»Genau.«
Sie mussten beide lachen.
»Und die alte Mrs Bondy, die Haushälterin – die hatte doch immer gesagt, eines Tages haut es durch den Schornstein ab.«
»Wir waren empört.«
»Und dann war es weg.«
»Das hat sie gemacht«, verkündete Henrietta, »die hat dem Eichhörnchen die Idee in den Kopf gesetzt.« Sie machte eine Pause. »Ist es noch so wie damals, Edward? Oder ist es heute anders? Ich stelle es mir vor wie damals.«
»Komm doch mal und schau es dir an, Henrietta. Es ist so lange her, seit du das letzte Mal da warst.«
»Das stimmt.«
Warum hatte sie eigentlich so viel Zeit verstreichen lassen, fragte sie sich. Na ja, man hatte zu tun, hatte andere Interessen, viele andere Menschen…
»Du weißt, du bist immer willkommen, jederzeit.«
»Du bist so lieb, Edward!« Der liebe Edward, dachte sie, mit seinen hübschen Knochen.
Er sagte hastig: »Ich freue mich, dass du ›Ainswick‹ so gern hast, Henrietta.«
Sie sagte versonnen: »›Ainswick‹ ist der schönste Ort auf der Welt.«
Ein junges Mädchen mit langen Beinen und einer wuscheligen braunen Mähne… ein junges Mädchen, das glücklich war und keine Ahnung hatte, was das Leben ihr noch alles antun würde… ein junges Mädchen, das Bäume liebte…
Dass man so glücklich sein und so gar keine Ahnung davon haben kann! Wenn ich dahin zurück könnte, dachte sie.
Laut fragte sie unvermittelt: »Ist Yggdrasil noch da?«
»Die hat der Blitz getroffen.«
»O nein – doch nicht Yggdrasil!« Henrietta war echt betrübt. Yggdrasil – das war ihr eigener Name für die große Eiche
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