Das Eulenhaus
einfach köstlich, irgendwo zu sein, wo sich nicht fette Frauen in zig Nummern zu kleine Kleider zu zwängen versuchen!«
»Muss grauenhaft sein!« Sir Henry sah auf seine Armbanduhr. »Mit dem 12-Uhr-15-Zug kommt Edward.«
»Ach ja?« Midge überlegte. »Den habe ich auch ewig nicht mehr gesehen.«
»Ist noch ganz der Alte«, sagte Sir Henry. »Bewegt sich kaum raus aus ›Ainswick‹.«
»Ainswick«, dachte Midge. »Ainswick!« Ihr Herz tat einen traurigen Hüpfer. Die wunderbaren Tage in »Ainswick« früher. Die monatelange Vorfreude, dahin zu dürfen! »Ich fahre nach ›Ainswick‹.« Nächtelang vorher wach im Bett zu liegen und es sich auszumalen. Und dann endlich – der Tag! Der kleine Dorfbahnhof, an dem der große Schnellzug aus London halten musste, wenn man dem Schaffner Bescheid gesagt hatte! Und der Daimler, der vor dem Bahnhof wartete. Die Fahrt – die letzte Biegung durch das Tor und das Wäldchen bis zu einer großen Lichtung, und da stand das Haus – groß und weiß und gastfreundlich. Und der alte Onkel Geoffrey im geflickten Tweedjackett.
»Holla, ihr Grünschnäbel – dann macht euch mal eine schöne Zeit.« Und das hatten sie. Henrietta, die aus Irland kam. Edward, der Ferien von Eton hatte. Und sie selbst, sie kam aus der Unwirtlichkeit einer nordenglischen Industriestadt. Wirklich himmlisch war es immer gewesen.
Aber auch immer konzentriert auf Edward. Den hoch gewachsenen und sanften und scheuen und immer freundlichen Edward. Der sie natürlich nie besonders wahrnahm, denn Henrietta war ja auch da.
Der stets zurückhaltende Edward, der immer so sehr wie ein Gast auftrat – sie war richtig verdattert gewesen, als ihr Tremlet, der Chefgärtner, einmal erzählt hatte: »Wird ja Mr Edward alles mal gehören hier.«
»Wie denn das, Tremlet? Der ist doch nicht der Sohn von Onkel Geoffrey.«
»Aber der Erbe, Miss Midge. Hat mit der Erbfolge zu tun. Miss Lucy ist ja Mr Geoffreys einziges Kind, aber sie kann nicht erben, weil sie doch eine Frau ist. Und Mr Henry, den sie geheiratet hat, ist nur ein Vetter zweiten Grades, also nicht so dicht dran wie Mr Edward.«
Inzwischen lebte Edward schon lange in »Ainswick«. Er war alleinstehend und kam nur sehr selten raus. Midge fragte sich manchmal, ob Lucy es wohl übel nahm. Aber Lucy sah immer aus, als ob sie gar nichts übel nehmen konnte. – Trotzdem, »Ainswick« war ihr Zuhause gewesen, und Edward war nur ein Vetter ersten Grades von ihr und außerdem über zwanzig Jahre jünger als sie. Ihr Vater, der alte Geoffrey Angkatell, war in der Gegend ein »Original« gewesen. Und obendrein hatte er ein beträchtliches Vermögen gehabt, von dem Lucy das meiste geerbt hatte, weshalb Edward relativ arm war. Er hatte gerade genug, »Ainswick« in Schuss zu halten, danach blieb ihm nicht viel.
Aber Edward hatte auch keine teuren Neigungen. Er war eine Zeit lang im diplomatischen Dienst gewesen, hatte den aber quittiert, als er »Ainswick« geerbt hatte, und seitdem lebte er auf seinem Grundbesitz. Edward war ein Büchernarr, er sammelte Erstausgaben und schrieb gelegentlich selbst versteckt ironische Artikelchen für irgendwelche unbedeutenden Blätter. Er hatte Henrietta, seine Kusine zweiten Grades, insgesamt dreimal gebeten, ihn zu heiraten.
Midge saß in der Herbstsonne und brütete über Erinnerungen. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich auf Edward freuen sollte oder nicht. Sie war nämlich durchaus noch nicht »drüber weg«, wie das so hieß. Über jemanden wie Edward kam man nicht einfach so drüber weg. Für Midge war der Edward in »Ainswick« genauso wirklich wie der Edward, der in einem Restaurant in London aufstand, um sie zu begrüßen. Sie liebte Edward, seit sie denken konnte…
Sir Henry holte sie zurück in die Gegenwart. »Wie gefällt dir Lucy diesmal?«
»Sie sieht blendend aus, wie immer.« Midge lächelte fein. »Nein, noch besser.«
»Ja-hah.« Sir Henry sog an seiner Pfeife. Und plötzlich platzte er heraus: »Ich mache mir ja manchmal richtig Sorgen um Lucy, Midge.«
»Sorgen?« Midge sah ihn überrascht an. »Warum das denn?«
Sir Henry schüttelte den Kopf. »Lucy kriegt einfach nicht mit, dass es Dinge gibt, die sie nicht tun darf.«
Midge starrte ihn an.
»Und sie kommt damit durch. Sie ist immer damit durchgekommen«, sagte Sir Henry lächelnd. »In Indien hat sie sich über sämtliche diplomatischen Gepflogenheiten hinweggesetzt – bei Dinnerpartys jede Rangordnung über den Haufen geschmissen,
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