Das Eulentor
Expeditionsteilnehmer ging vor, und seit Harpuns Tod hatte ich mir geschworen, keinen weiteren Mann mehr zu verlieren. Außerdem wollte ich abwarten, ob sich der Sturm beruhigte.
Während Vanger im Notzelt schlief, pflockten wir die Hunde an und errichteten daneben ein stabiles, größeres Lager. Durch den Verlust von Hansens Schlitten hatten wir gut ein Drittel unserer Lebensmittelvorräte eingebüßt. Wir verfrachteten den restlichen Proviant in das große Fünfmannzelt und bauten mit den verbleibenden Schlitten einen Wall darum. Anschließend fertigten wir einen Verbindungsgang aus Holzgestänge und einer im Wind flatternden Leinwand zum Notzelt, wo sich die Hunde eng aneinander drängten, damit wir Vanger in das große Zelt schleppen konnten. Hansen, Christianson und ich arbeiteten bis in die Nacht hinein und mußten schließlich aufhören, als uns dichter Nebel einhüllte. Es war kein normaler Dunst. Eisnebel! Heimtückisch und bitterkalt. Völlig erschöpft krochen wir in das Zelt, um uns an der Petroleumlampe zu wärmen. Wir waren so durchfroren, daß zunächst keiner von uns wagte, die Stiefel auszuziehen, aus Furcht, uns könnten die Zehen abfallen. Doch nach einer kräftigen Suppe fühlten wir uns etwas besser.
Als ich später in meinem Schlafsack lag und zur Decke starrte, war ich deprimierter denn je. Irgendwann einmal kam der Zeitpunkt einer jeden mißglückten Expedition, wo es nicht mehr darum ging, das Ziel zu erreichen, sondern lediglich ums Überleben. Ich wußte nicht, ob wir diesen Punkt schon erreicht hatten oder ob wir uns knapp davor befanden. Jedenfalls ging mir ständig dieselbe Frage durch den Kopf: Was hätte passieren, was hätte ich anders machen müssen, um nicht in diese Situation zu geraten?
Mittlerweile schmerzten meine Augen so unerträglich, daß ich mich in einen finsteren Keller wünschte. Mit kalten Kompressen auf Stirn und Schläfen verschaffte ich mir etwas Linderung. In weiter Ferne heulte der nicht enden wollende Sturm, dessen Geräusch mich rasend machte. Ich bildete mir sogar ein, das Kreischen einer Schneeeule inmitten des Getöses zu hören. Das Pfeifen, das Flattern der Planen und das schrecklich grelle Licht! Ich sehnte mir nicht nur abgrundtiefe Dunkelheit herbei, sondern auch absolute Stille, wußte aber zugleich, daß mein Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde. Obwohl ich kein religiöser Mensch war, betete ich in dieser Nacht zum ersten Mal, daß sich unsere Situation nicht verschlimmern und keine weitere Tragödie abspielen möge. Doch instinktiv ahnte ich, daß meine Worte vergebens waren, eine Heuchelei in bitterster Not. Wir hatten die Linie längst überschritten, an der sich die Prioritäten umkehrten.
*
Am nächsten Tag, dem 19. November, tobte der schlimmste Blizzard, den ich während unserer Reise erlebt hatte. Im Morgengrauen – wir waren kaum richtig wach – kroch der kranke und geschwächte Vanger völlig grundlos aus seinem Schlafsack. Möglicherweise lag es an der Gehirnerschütterung, die ihm den Verstand raubte, oder auch an dem Fieber auf Grund seiner Verletzungen. Der verrückte Norweger stand auf wackeligen Beinen vor dem geöffneten Spalt der Zeltplane. Er trug nur ein offenes Hemd, Socken und eine lange Unterhose, unter der sich die blutgetränkten Bandagen abzeichneten.
»Vanger!« rief ich.
Ohne sich umzusehen stürzte er aus dem Zelt. Ich versuchte, ihn noch am Hemdsärmel zu packen, doch Vanger hatte sich bereits ins Freie gezwängt. Schnee schlug mir entgegen. Verzweifelt schrie ich ihm nach, doch er war bereits im Gestöber verschwunden. Hansen und Christianson fuhren ebenfalls aus ihren Schlafsäcken.
»Vanger ist draußen!« brüllte ich.
Sogleich packten wir unsere Mäntel und schlüpften in die Stiefel, um nach draußen zu laufen, wo wir umgehend bis zu den Waden im Schnee versanken. Wir kamen nicht weit. Binnen Sekunden wehte der Sturm unsere Fußspuren zu. Unsere Rufe verloren sich in dem Getöse. Hier jemanden finden zu wollen, war schier unmöglich.
Hansen trat an meine Seite. Er mußte entsetzlich frieren, da er sich die Arme um den Oberkörper schlug. »Wir sollten die Suche aufgeben, sonst verirren wir uns noch selbst.«
»Aber Vanger!«
»Alexander! Wie lange kann ein Mensch ohne Ausrüstung hier draußen überleben?« brüllte Hansen. Er packte mich am Mantel und wollte mich ins Zelt zerren, als Christiansons Ruf zu uns drang.
»Hansen, Berger! Hierher!«
Wir stürzten in die Richtung, aus der sein
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