Das Eulentor
Schrei kam, und da entdeckten wir das nächste Unglück. An den Pflöcken im Notzelt hingen nur noch lose Riemen, die der Wind durch den offenen Eingang umher wirbelte. Entweder hatte Vanger die Leinen gelöst, oder die Huskies hatten sich während des Sturms losgerissen. Jedenfalls waren sie allesamt davongejagt.
»Verfluchte Scheiße!« Hastig kramte Hansen die Hundepfeife aus dem Mantel.
Mehrere Minuten vergingen, in denen ich in das Schneegestöber blinzelte, aber nichts entdecken konnte.
»Wir werden die Hunde suchen, sobald sich der Blizzard beruhigt hat«, brüllte Hansen gegen den Sturm.
Ich nickte. Wir mußten sie dringend finden. Ohne sie gab es kein Weiterkommen.
Als wir das Zelt erreichten, hegte ich die Hoffnung, daß sich Vanger in der Zwischenzeit ins Innere geschleppt hatte – doch das Zelt war leer. Ich blieb noch eine Weile vor dem Eingang stehen, schwenkte eine Öllampe und schrie Vangers Namen, aber ohne Erfolg. Ich stand so lange draußen, bis ich selbst halb erfroren war – vermutlich deshalb, um mich davon zu überzeugen, daß Vanger mittlerweile entweder erfroren, über die Steilklippe gestürzt war, oder ihn eine Gletscherspalte verschluckt hatte. Für ihn gab es keine Überlebenschance – nicht nach so langer Zeit. Schließlich montierte ich die Lampe an eine der äußeren Zeltstangen und kroch ins Warme zu den anderen.
Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt angelangt. Wir verbrachten den Tag im Zelt, während der Sturm an der Plane rüttelte. Christianson hatte an beiden Füßen erfrorene Zehen, die ich ihm verband. Nach einer Mahlzeit starrten Hansen und Christianson ohne ein Wort zu sagen zur Decke. Der Schwede hatte schon lange nicht mehr das Bild seiner Frau betrachtet. Um mich abzulenken, schrieb ich in mein Tagebuch, aber die Worte wollten mir nicht von der Hand gehen. Zu viele Zweifel und verwirrende Gedanken gingen mir durch den Kopf. Für mich stand fest, die Expedition war an ihrem neunten Tag gescheitert, nachdem ich zwei Männer, einen Schlitten und alle Hunde verloren hatte. Da wir den ersten Kontrollpunkt, der noch so weit entfernt lag, nicht rechtzeitig erreichen würden, um dort eine Nachricht für Kapitän Anderson und die Besatzung der Skagerrak zu hinterlassen, sollte sich in den Walfängerstationen herumsprechen, daß wir es nicht geschafft hatten. Uns blieb keine andere Wahl, als zu Fuß den Rückweg anzutreten, hinunter zum Fjord und die gesamten hundertfünfzehn Kilometer zurück zu unserem Basislager, von dem wir aufgebrochen waren. Unsere einzige Hoffnung bestand darin, daß uns ein Schiff, welches eine ähnliche Route wie die Skagerrak fuhr, an unserem Ausgangspunkt auflas. Noch während ich meine Gedanken zu Papier brachte, fielen mir die Augen zu.
Mitten in der Nacht schreckte ich durch einen fürchterlichen Krach hoch. Völlig benommen wollte ich zur Lampe greifen, spürte jedoch, wie ich kopfüber in die Tiefe gezogen wurde. Für die Nachwehen eines Alptraums war dieses Gefühl zu real. Ich hörte, wie der Zeltboden riß. Binnen Sekunden füllte sich der Schlafsack mit eiskaltem Wasser. Schlagartig war ich hellwach und schlug mit den Armen um mich. Im nächsten Augenblick sackte ich weiter ab. Ich strampelte wie ein Besessener und versuchte, mich aus dem Schlafsack zu befreien. Christianson schrie in der Dunkelheit, als befinde er sich in Lebensgefahr. Ich wußte nicht, wie lange ich im Eiswasser trieb, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Gedanken an Untergang, Kältetod, das Ertrinken im Meer und vieles andere fuhren mir durch den Sinn. Endlich flackerte Licht auf. Ich lag einige Meter von meinem Schlafplatz entfernt, die Zeltspitze befand sich einen Meter höher als sonst. Hansen packte mich am Arm und zog mich aus der Mulde.
Gemeinsam stolperten wir zurück, bis wir mit dem Rücken an die Plane stießen. Christianson stand auf der anderen Seite. Zwischen uns schwammen Stiefel, Mützen, Wolldecken, Schlafsäcke und Dutzende Packungen Schiffszwieback. Eilig fischten wir die Sachen aus dem Wasser, aber die Kleidungsstücke waren so schwer, daß wir manche davon nur zu zweit aus der Senke heben konnten.
»Was zum Teufel passiert hier?« rief ich.
»Ich habe so etwas noch nie gesehen«, keuchte Hansen. »Möglicherweise ist eine Unterwasserschwelle aufgebrochen.«
»Mitten auf dem Felsplateau?«
Christianson watete durchs Wasser auf uns zu.
»Nicht! Bleib dort!« Hansens Stimme überschlug sich fast.
Doch Christianson hörte nicht. Er befestigte
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