Das Eulentor
hinter der Hütte waren sie vor Tagen beim Graben auf eine feste Eisdecke gestoßen und hatten in einem drei Meter langen Tunnel die Speisekammer errichtet. An der Nordseite der Hütten standen noch Dutzende Ballen und Kisten, die wir im Moment nicht verstauen konnten, da der Speicher noch vergrößert werden mußte.
Zufrieden betrachtete ich das Bauwerk. Das Lager wuchs mit jedem Tag und streckte seine Glieder bereits nach allen Richtungen aus. Erst gestern waren die Wände des letzten Hauses dazugekommen, wodurch nun auch die Schreinerwerkstatt stand. Die Männer hatten die Außenwände mit Teer bestrichen und mit Ringen versehen, die im Falle eines Blizzards als Verankerung dienen sollten – und wie ich am eigenen Leib erfahren hatte, besaß die Teufelsebene ihren Namen zu Recht. Wer glaubte, hier vor den Urgewalten der Natur sicher zu sein, war entweder ein Narr oder ein Hitzkopf. Drei meiner Kameraden hatten bei der Expedition ihr Leben gelassen. Solange ich das Projekt leitete, würde kein weiterer Mann zu Tode kommen; dafür wollte ich meine Hand ins Feuer legen. Bisher lief alles glatt, nur das aus dem Schacht hallende Klopfen bereitete mir Magenschmerzen. Hansen konnte es nicht lassen, an der Steigleiter zu arbeiten. Als die Geräusche endlich verstummten, wurden sie durch die Klänge eines Banjos abgelöst. Bestimmt zogen ihn die Männer soeben an der Sicherungsleine empor.
Minuten später erschien der große Norddeutsche, den immer noch alle den Walfänger von Rostock nannten, im Türrahmen. Er trug eine geflickte, dreckige Latzhose, darüber seine ausgewaschene Strickweste. Über der Schulter hing sein Banjo. Es hatte nur noch drei Saiten und sah genauso ramponiert aus wie Hansen. Seit unserer Expedition war sein Haar lang und borstig geworden, ebenso die Büschel seines gelben Backenbarts, der ihm einen verwegenen Ausdruck verlieh. Möglicherweise zollten ihm die Männer deshalb Respekt. Zwar fungierte ich als technischer und wissenschaftlicher Leiter, aber Hansen verfügte über die Ausstrahlung, die Männer zu begeistern. Diese Eigenschaft fehlte mir. Nicht zuletzt deshalb brauchte ich seine Unterstützung, doch die ersten Meinungsverschiedenheiten zeichneten sich bereits ab.
Der Walfänger humpelte mir auf zwei Krücken entgegen. Unterhalb seines linken Knies fehlte das Bein. Drei Tage nach unserer Rettung hatte es ihm Doc Travis an Bord der Skagerrak wegen seiner schweren Erfrierung amputieren müssen. Hansen hatte mir deswegen nie einen Vorwurf gemacht. Im Gegenteil, er erwähnte stets, daß er in meiner Schuld stünde, weil ich ihn auf der Teufelsebene vor dem Tod gerettet hatte. Jeden anderen Mann hätte dieses Schicksal für immer von der Insel vertrieben – aber nicht Hansen.
»Verpflegung und das restliche Baumaterial sind angekommen«, sagte ich.
»Habe ich gehört.« Als Hansen in die Sonne trat, schirmte er sich mit der Hand die Augen ab, die immer noch an das Kerzenlicht und die Dunkelheit des Schachts gewöhnt waren. Er wirkte desinteressiert, wie er so dastand und in die Helligkeit blinzelte. An seinem Werkzeuggürtel baumelten die restlichen Eisenstreben jener Steigleiter, die er noch montieren wollte. Obwohl er der Untersuchung des Schachts zunächst skeptisch gegenübergestanden hatte, war er mittlerweile von der Erforschung der Tiefe besessen, als ziehe ihn der Abgrund magisch an. Diese Veränderung in Hansens Gemüt war mir zunächst unbemerkt geblieben, doch mittlerweile war sie nicht mehr zu übersehen. Da es nicht so weitergehen konnte, mußten wir eine Lösung finden.
»Wir sollten in zwei Wochen mit dem Hauptgebäude fertig sein«, begann ich. »Böden und Dächer fehlen noch, Fenster und Türen sind noch nicht eingehängt. Erst dann können wir von den Zelten in die Hütten übersiedeln. Der Tunnel vom Holzlager zur Werkstatt ist noch nicht gegraben. Der Hundezwinger ist viel zu klein. Ebenso muß die Vorratskammer erweitert werden.« Ich machte eine Pause. Hansen starrte immer noch an mir vorbei zur Klippe. »Diese Arbeiten müssen erledigt werden, bevor wir mit der Erforschung des Schachts beginnen«, drängte ich.
»Für solche Arbeiten bin ich nicht geschaffen.« Er klemmte sich eine Krücke unter die Achsel und zog sich die Wollmütze vom Kopf, um sie in der Hand zu kneten, wie er es immer tat, wenn er sich unwohl in seiner Haut fühlte.
Ich biß mir auf die Zunge. Wie sollte ich dem großen, sturen Walfänger die Dringlichkeit der Bauarbeiten beibringen? »Jan,
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