Das Eulentor
Nacht stand mir bevor, in der ich von einem langen, dunklen Eulentor träumte, dessen gräßlicher Schlund mich in eine unendliche Tiefe hinabzog, bis ich im Morgengrauen schweißgebadet erwachte.
NEUNTES KAPITEL
M ittlerweile schrieben wir den zwanzigsten Mai. Seit einem Monat erhellte die Mitternachtssonne die Nächte Spitzbergens, so daß es rund um die Uhr taghell war. Doch für die Isländer, Hansen oder mich bedeutete es keine Umstellung, da wir ohnehin die meiste Zeit im Schacht verbrachten, wo uns bis auf eine Petroleumlampe absolute Dunkelheit umklammerte.
Zu Mittag dieses Tages stand ich an der Klippe und sah, wie Kapitän Anderson mit seinem Schiff in der Bucht anlegte, um die lang ersehnte neue Ausrüstung abzuliefern. Längst hatte ich mich an die Schneebrille gewöhnt, die die Umgebung in ein dunkles Violett tauchte. Reglos verharrte ich in der Kälte, den Kragen der Rentierjacke hochgeschlagen, und spülte eine Tablette mit einem Becher heißen Kaffee hinunter. Seit Tagen quälten mich hämmernde Kopfschmerzen, die einfach nicht verschwinden wollten. Und wenn ich daran dachte, welche Anspannung in den nächsten Wochen auf uns zukam, würden sie vermutlich zunehmen.
Nach und nach wurden die auf Holzpaletten geschnürten Pakete ausgeladen. Hansen und ich hatten überlegt, wie wir tiefer und vor allem rascher in den Schacht absteigen konnten, und kamen auf zwei Möglichkeiten. In einer ersten, viel zu hastig gesponnenen Überlegung wollten wir in jeder Zwischenebene eine mit einem Kessel angeheizte Dampfmaschine anbringen, die jeweils eine Seilwinde antrieb. Mit dieser Technologie betrug die Reisegeschwindigkeit einen Meter pro Sekunde, wodurch der Abstieg über einen Seilabschnitt knapp zehn Minuten dauerte. Doch die Maschinen produzierten Gase und qualmten wie Schlote. Natürlich würden die Dämpfe von dem nach wie vor unerklärlichen Luftzug nach unten abgesogen werden, doch falls der Wind einmal aussetzte, würden wir im Schacht echte Probleme bekommen und möglicherweise ersticken. Zudem benötigten die Dampfmaschinen Wasser und Brennstoffe, die wir in die einzelnen Zwischenebenen transportieren mußten. Im Endeffekt würden wir Brennstoff verheizen, um Brennstoff nach unten zu befördern – was völlig absurd war. Also entschieden wir uns für die zweite, aber kostspieligere Variante.
In Abständen von tausend Metern hatten wir stabile Winden in den Fels montiert, die tausend Meter Stahlseil trugen. An dieser Winde wurde die neue Gondel hinabgelassen, die mittlerweile einem Eisenkäfig glich und auf engem Raum fünf Männern Platz bot. Erreichte die Gondel die zweite im Fels eingelassene Winde, wurde sie über einen Rollbügel auf das nächste Stahlseil gehievt und eingeklinkt, worauf der zweite Teilabstieg begann. So konnten wir uns Etappe für Etappe nach unten bewegen, ohne daß wir umsteigen mußten. Sämtliche Winden wurden von Elektromotoren angetrieben, die wir über einen Generator mit Strom versorgten. Dazu benötigten wir Tausende Meter Kabel, die wir an den Schachtwänden anbrachten, und die in einen mit Diesel-Benzin-Gemisch betriebenen Generator mündeten, der in der Station tuckerte und die Abgase in den Himmel blies. Natürlich hatte diese Methode einen entscheidenden Nachteil: Da zwischen der Station und der Gondel keine Kommunikation herrschte, wollten wir ein Telegraphiekabel mitverlegen, aber wegen des störenden Magnetfeldes, welches im Schacht herrschte, wurde jede Induktionsspule unbrauchbar. Daher mußten die Männer in der Station den Zeitpunkt berechnen, an dem die Gondel den tiefsten Punkt erreicht hatte. Zu einer vorher ausgemachten Uhrzeit wurde der Generator erneut angeworfen, worauf sie wieder nach oben fuhr.
So lautete der Plan – und soeben wurden die restlichen Baumaterialien aus dem Schiff geladen, die sich neben den Hundeschlitten zu immer größeren Bergen stapelten. Im Moment beschäftigte mich aber nicht nur die Frage, wie wir das alles hinaufschleppen sollten, sondern auch eine weitere Sache, die sich anders entwickelt hatte als geplant – und die nicht gerade dazu beitrug, daß meine Kopfschmerzen verschwanden. Nachdem wir lange nach einem zusätzlichen Investor Ausschau gehalten hatten, war es uns gelungen, den Vorstand der Berliner Motoren-Werke für unsere Pläne zu begeistern. Der Vertrag sah folgendermaßen aus: Das Unternehmen, welches soeben einen Panzerwagen mit Kettenantrieb und drehbarem Geschützturm entwickelte, vermietete uns
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