Das Eulentor
Fegefeuer führt.
Hansens Worte gingen mir nicht aus dem Sinn. Ebenso wenig wie die Eulen. Was hatten sie mit dem Schacht zu tun? Da ich nicht an übersinnliche Dinge glaubte, mußte irgend jemand diesen Schacht erbaut haben. Aber falls die Öffnung, dieses Tor – wie Hansen es bezeichnete –, tatsächlich ins Fegefeuer oder sonst wohin führte, wußten die Eulen mehr darüber als wir. Doch warum ausgerechnet Eulen? Warum nicht Nachtfalter oder Fledermäuse? Das hatte ich mich die letzten Wochen bestimmt schon hunderte Male gefragt, aber keine logische Erklärung für deren Existenz gefunden.
Auf meinem Schrank reihten sich Bücher über Technik, Dampfmaschinen, Zahnradbahnen ebenso wie Bildbände über die Fauna und Flora Skandinaviens oder die Klassiker der Romantik. Mitten darunter stand ein zerschlissener Foliant über die Tierwelt, aus dem Privatbesitz von Doc Travis, den er mir geschenkt hatte. Mythologica von der Gräfin Roberta De Sica – handsigniert am 7. Oktober mit einer persönlichen Widmung für einen gewissen Dr. Frederick Travis, wahrscheinlich den Vater des Schiffsarztes. Als Gräfin De Sica das Buch 1849 in ihrer Villa in der Toskana geschrieben hatte, war sie bereits weit über achtzig Jahre alt gewesen. Da sich darin aber keine brauchbaren Fakten, sondern nur pseudowissenschaftliche Abhandlungen befanden, hatte ich noch nicht darin geblättert. Doch jetzt, wo ich mit meinem rationalen Verstand am Ende war, schlug ich das Buch bei dem Kapitel über Eulen auf. Der Artikel lag wie ein Anker vor mir, von dem ich mir inmitten der aufbrausenden See etwas Halt erhoffte.
Während der Sturm um die Station heulte und Schneekörner an die Fensterläden drosch, las ich über den alten, europaweit verbreiteten Aberglauben, dem zufolge die Eule ein Hexenvogel sei. Das Pergament des Folianten war ebenso brüchig wie der Druck verblaßt. In der Abbildung, die wohl eine Hexenversammlung darstellen sollte, konnte man eine besonders große, schwarze Eule mit seltsamen Augen nur undeutlich im Hintergrund erkennen. Darunter stand mit Federkiel der Satz geschrieben: Die Eulen sind nicht das, was sie scheinen. Die seltsam geschwungene Handschrift war mit jener der Widmung identisch und stammte vermutlich ebenso von der Gräfin. Auf wundersame Weise war dieses Buch also zu mir gelangt, doch wußte ich nichts damit anzufangen. Und je länger ich las, desto weltfremder erschienen mir die Ansichten der Gräfin.
Angeblich leisteten die Eulen Botendienste für Hexen, die sich mit ihren Federn schmückten. Der dämonische Vogel begleite das Wilde Heer des Höllenfürsten, und Gerüchten zufolge könne sich des Teufels Großmutter in eine Eule verwandeln. Da man diese Tiere am Tage selten zu sehen bekam, war ihr Ruf tagsüber nie zu hören – geschieht das trotzdem, kündigt er eine Feuersbrunst oder Seuchen an. In Italien glaubte man sogar daran – und Gräfin De Sica war überzeugt davon –, daß der Blick einer Eule töten könne. Vor einem halben Jahr hatte ich am Strand der Walroßbucht in das Antlitz der blinden, verkrüppelten Schneeeule gestarrt – und war immer noch am Leben. Ebenso wenig glaubte ich daran, daß der Ruf einer Eule den Tod ankündige – obwohl letztes Jahr drei Männer auf der Insel gestorben waren. Wenn man Zusammenhänge finden wollte, würde man das – keine Frage. Doch ich glaubte nicht daran.
Allerdings rief der Aberglaube an die Eule als Todesbote etwas in mir wach. Hastig griff ich nach den einzelnen Bänden der Shakespeare-Ausgabe, die ich von Wien mitgenommen hatte. Ich blätterte wohl eine halbe Stunde oder länger darin, bis ich jene Stelle in Julius Cäsar fand, in der das Eulengeschrei einen Mord ankündigte.
Und gestern saß der Vogel der Nacht,
sogar am Mittag auf dem Markte,
und kreischt’ und schrie.
Eine Anmerkung, die ich mir während meiner Studienzeit in dem Buch gemacht hatte, führte mich zu einem weiteren Drama, in dem Lady Macbeth ebenfalls eine Eule hörte, während ihr Mann den rechtmäßigen König ermordete.
- Still, horch! -
die Eule war’s, die schrie, der traur’ge Wächter,
die gräßlich gute Nacht wünscht.
Möglicherweise waren die Eulen tatsächlich mehr als sie schienen, doch für mich blieben sie lediglich Gebeine in den Nistplätzen des Schachts. Weit nach Mitternacht, als meine Augen bereits brannten, schlug ich die Bücher zu und legte mich mit Tausenden Gedanken, die mir durch den Kopf wirbelten, zu Bett. Eine unruhige
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