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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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überlegen, wie wir genügend Licht und Sauerstoff hinunter transportieren können.«
    »Wir könnten moderne Lampen mit Leuchtgas verwenden.«
    »Und eine chemische Reaktion mit dem Schwefeldampf riskieren?«
    »Du kannst einem Mut machen.« Hansen ließ seine kräftigen Schultern hängen. »Was schlägst du vor?«
    »Auf jeden Fall müssen wir weitermachen. Ich möchte genauso wie du herausfinden, wohin der Schacht führt, was sich an seinem Ende befindet … und vor allem möchte ich einen Hinweis entdecken, wer dieses Ding gebaut hat.« Ich dachte an die pechschwarze Felswand und den Schachtdurchmesser, der immer noch exakt drei Komma vierzehn Meter betrug.
    »Aber wie?« fragte Hansen.
    »Zunächst brauchen wir kräftigere Winden, die tausend Meter Stahlseil tragen können, damit wir nicht so viele Zwischenebenen einziehen müssen. Außerdem benötigen wir stabilere Gondeln. Bei diesen Dimensionen, die wir bewältigten, müssen wir eine höhere Reisegeschwindigkeit erzielen – entweder mit Elektromotoren oder Dampfmaschinen.«
    »Mit einem Wort: Wir brauchen mehr Geld«, sinnierte Hansen.
    »Exakt. Entweder genehmigt Oskar Lindemann höhere Beträge, was ich aber bezweifle, da er mit unserem Bericht nicht zufrieden sein wird. Denn bis auf einen tiefen, geometrischen Schacht, ein paar Gesteinsproben, unheimliche Vogelgerippe und einer Menge vager Theorien haben wir nichts zu bieten.«
    »Oder?« wollte Hansen wissen.
    »Oder wir suchen nach einem neuer Financier – einer Investorengruppe.«
    Hansen sah mich nicht einmal so überrascht an. Wahrscheinlich ahnte er, daß ich im Geiste bereits neue Pläne schmiedete.
     
    *
     
    Noch am selben Abend saß ich allein in meiner Kammer. Das Zimmer war bloß fünf Quadratmeter groß und bot neben einem Bett nur ein Schreibpult und einen Schrank, dennoch war es mein Zuhause. Hier bewahrte ich meine Bibliothek und den gesamten Schriftverkehr auf. Da die Kammer direkt neben dem Schachtraum lag, hörte ich – während ich meinen Schlußbericht an Lindemann tippte – wie die Männer nebenan murrten, über den Dielenboden liefen und das übriggebliebene Werkzeug verstauten. Unsere Arbeit war vorerst beendet, die maximale Tiefe erreicht, aber wir hatten kein Ergebnis erzielt. Trotzdem mußte ich Lindemann und dem Rektor der Fakultät etwas berichten, wobei ich mich nur auf Mutmaßungen berufen konnte, Versprechungen abgab und baldige Erfolge in Aussicht stellte. Darauf bedacht, daß meine Worte zuversichtlich klangen, beendete ich das Schreiben nach fünf Seiten.
    Als ich den Brief im Kuvert verschloß, hörte ich die Männer zu Bett gehen. Nach und nach erstarb die Station in kaltem Schweigen. Mittlerweile schien der Mond durch die schmalen Oberlichte. Ich entzündete die Petroleumlampe an meinem Pult und starrte auf die Bücher, die mir Doc Travis aus Oslo, Stockholm und Kopenhagen mitgebracht hatte. Den ganzen Tag bereits spukten mir Hansens achtlos dahingesprochenen Worte durch den Kopf: Irgendwo muß der Schacht enden, außer er ist ein Tor, das geradewegs ins ewige Fegefeuer führt.
    Ein ewiger Schacht! Möglicherweise befanden wir uns nur auf der Spitze eines Eisbergs – symbolisch gesprochen – und kratzten an dessen Oberfläche. Fest stand, daß die Zahl Pi eng mit dem Schacht in Verbindung stand. Um mich nicht lächerlich zu machen, hatte ich Lindemann ein diesbezügliches Detail verschwiegen: Es betraf die Seehöhe, auf der wir uns befanden und wo der Schacht begann. Zog man von den 471 Metern die Zahl Pi ab, bekam man knapp 468 Meter als Ergebnis. Die beste Näherung an Pi bildete der Bruch 355/113, der die Zahl Pi auf sieben Stellen berechnete. Die Summe von 355 und 113 ergab wiederum unsere 468 Höhenmeter. Lindemann hatte natürlich recht, was die Länge eines Meters betraf: Dieses Maß wurde erst vor etwas über hundert Jahren in Paris festgelegt. Doch hatte Lindemann nicht erwähnt, worauf sich diese Festlegung stützte. Ein Meter entsprach dem zehnmillionsten Teil der Entfernung vom Pol zum Äquator, und war dadurch ebenso eine Verhältniszahl wie die Zahl Pi. Daher war es gleichgültig, wann das Meter entdeckt wurde. Diese Tatsachen besaßen immerwährende Gültigkeit. Möglicherweise war alles nur ein nichtssagender Zufall, aber falls es doch eine Bedeutung hatte, dann möglicherweise diese, daß der Schacht ebenso unendlich war wie diese Zahl. Auch das Böse sei unendlich, hatte mal jemand behauptet.
    … er ist ein Tor, das geradewegs ins ewige

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