Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
Vom Netzwerk:
einen Schauer über den Rücken. Was hatten diese Tiere so tief unten verloren? Wovon ernährten sie sich? Doch nicht etwa nur von ihren eigenen Jungen! Gewiß mußten sie blind sein, da sie in ewiger Dunkelheit aufgewachsen waren. Aber wo lebten sie jetzt? Ich fand keine Antwort auf all diese Fragen. Dazu kam das ständige Heulen im Schacht, das mich verrückt machte, je tiefer wir nach unten fuhren. Manchmal bildete ich mir ein, das Flattern der Eulen zu hören, das Kratzen ihrer Krallen an den Schachtwänden oder das Quäken ihrer mißgebildeten Jungtiere.
    Hansen kurbelte ohne Unterlaß weiter. »Der Schacht gehört den Eulen«, murrte er, als das Licht der Öllampe ein weiteres Nest unmittelbar neben uns aus der Dunkelheit riß. »Hast du schon einmal von so einem Eulenschacht gehört?« Seine Worte verhallten dumpf über dem schwarzen Abgrund.
    Ich antwortete nicht.
    Plötzlich lief ein Ruck durch die Gondel. Das Seil war komplett aufgerollt. Weiter ging es nicht mehr hinunter. Hansen trat näher an mich heran. Der Gondelboden knarrte. Ich spürte Hansens Atem, roch seinen Schweiß. Ebenso wie ich hatte auch er schon lange nicht mehr geduscht. Zu sehr waren wir damit beschäftigt, diese entsetzliche Tiefe zu erforschen.
    »Fünf Gondeln – und es hat nichts gebracht.« Seine Verzweiflung schnürte ihm die Kehle zu.
    Mir erging es nicht anders. Wie immer nach einer solchen Etappe nahm ich Hammer und Meißel aus der Werkzeugtruhe, lehnte mich über das Geländer und begann, einen Splitter aus der massiven, schwarzen Felswand zu schlagen, den ich in einem Glas archivierte. Mit einem Stift beschriftete ich das Etikett: 2.500 Meter.
    Indessen setzte sich Hansen an den Rand der Plattform und ließ die Beine hinunter baumeln. Er befestigte die Petroleumlampe an einem fünfzig Meter langen Seil und führte es in die Tiefe. »Der Schacht muß doch wohin führen!«
    Aus einem unerklärlichen Grund fiel mir in diesem Moment die Zahl Pi ein. »Und wenn er unendlich lang ist und nirgends hinführt?«
    »Irgendwo muß er enden«, brummte Hansen. »Außer er ist ein Tor, das geradewegs ins ewige Fegefeuer führt …«
    Obwohl Hansen seine Worte nicht weiter ausführte, jagten sie mir einen Schrecken ein. Stumm sah ich zu, wie er das Seil abwickelte. Von Sekunde zu Sekunde wurde es dunkler um uns, bis nur noch ein kleines, flackerndes Licht in der Schwärze zu erkennen war. Die Lampe schlingerte am Seil und klimperte manchmal gegen die Felswand.
    »Verdammt, ich könnte mir die Haare raufen!« fluchte der Walfänger. »Glaube mir, am liebsten würde ich runterspringen.«
    »So wie Christianson?« schlug ich vor, bekam aber keine Antwort. Dann hörte ich es in der Finsternis rascheln, gefolgt vom Aufklappen eines Taschenmessers.
    »Was hast du vor?«
    »Ich schneide dieses verflixte Seil durch, dann werden wir sehen, wie lange die Lampe fällt«, knurrte Hansen.
    »Das haben wir doch schon weiter oben versucht.«
    »Dann machen wir es eben noch einmal.« Hansen kappte das Seil und begann im selben Moment zu zählen. »Eins … zwei … drei … vier …«
    Der Lichtschein wurde immer kleiner. Wie immer, so schlugen auch diesmal Funken hoch, sobald das Blech entlang der Felswand schrammte. Nach neun Sekunden war das Licht nicht mehr zu sehen. Völlige Dunkelheit umgab uns.
    »Siehst du, es …«
    »Still!« zischte Hansen.
    Wir lauschten eine volle Minute, aber es drang kein Geräusch eines Aufpralls zu uns hoch. Nach einer weiteren Minute entzündete ich mit einem Streichholz die Reservelampe, die an der Gondelaufhängung baumelte.
    Hansen schirmte die Augen mit der Hand ab und blinzelte mich an. »Nach dem Gesetz des freien Falls bedeuten neun Sekunden eine Strecke von dreihundertneunzig Metern … mit der Seillänge geht es also noch mindestens vierhundertvierzig Meter in die Tiefe.«
    »Eine zusätzliche Seilwinde anzufordern, bringt nichts, falls du darauf hinaus willst. Wir haben keinen Aufprall gehört«, erinnerte ich ihn. »Wer weiß, wie tief der Schacht noch hinunterführt. Der gesamte Abstieg mit viermaligem Umsteigen dauert jetzt schon knapp drei Stunden. So können wir unmöglich weitermachen.«
    Hansen setzte sich auf ein Wasserfaß und starrte mich trübsinnig an.
    »Möglicherweise führt der Schacht noch mehrere Kilometer in die Tiefe, und wir haben die Lampe bloß aus den Augen verloren, weil die Luft dort unten dünner wird und das Licht erloschen ist«, dachte ich laut. »Falls das zutrifft, müssen wir uns

Weitere Kostenlose Bücher