Das Eulentor
ersten Mal sah ich sie ohne Kappe mit offenen Haaren. Das Stroh aus der Hundehütte steckte noch in ihren Strähnen. Ich sah mich um. Ein Mann fehlte. Rönne!
Offenbar dachten wir dasselbe, denn wir rannten zu seiner Kammer. Nilsen riß die Tür auf, Gjertsen leuchtete mit der Lampe hinein. Der Anblick machte uns alle sprachlos.
»Marit, holen Sie bitte meine Arzttasche«, sagte ich schließlich. »Ich werde versuchen, seinen Kopf zu bandagieren.«
Rönne lag mit weit aufgerissenen Augen in seinem Bett. Er starrte zur Decke. Der Arm mit dem Revolver in der Hand hing schlaff zu Boden. Er hatte sich in den Kopf geschossen.
*
Am nächsten Morgen begruben wir Rönne neben Brehm. Diesmal war die Beerdigung noch armseliger als am Tag zuvor, da wir Rönne nichts weiter als einen ausrangierten Armeerevolver ins Grab legen konnten. Keinen Schmuck, keine Photographien, nur seine schmierige Arbeitskleidung, als sei von seinem Leben nichts geblieben als ein Bündel Stoffreste. Schließlich rammten wir eine Stange mit der norwegischen Fahne neben dem Holzkreuz in den Boden. Leise wippte der Mast im Wind hin und her. Das Segeltuch schnalzte. Niemand sagte ein Wort. Zwei Tote in zwei Tagen.
Der Wind wehte Schnee von den höher gelegenen Gipfeln herunter und hüllte unsere kleine Trauergemeinde in ein weißes Gestöber. Augenblicklich schmolz der Schnee auf meinem Gesicht, um im nächsten Moment durch den eiskalten Wind zu gefrieren. Ich spürte, wie das Blut in meinen Wangen pochte. Über Nacht war der Wetterumschwung gekommen. Es war Anfang August, aber mit etwas Pech würden die nächsten Tage bitterkalt werden.
Nach und nach zogen sich die Männer ins Kasino zurück, doch ich blieb vor dem Grab stehen. Mittlerweile wurde es zur Gewohnheit, aber ich konnte mich nicht so rasch von dem Toten abwenden. Obwohl ich Rönne von allen Anwesenden am kürzesten gekannt hatte – und bestimmt auch am wenigsten –, schien es, als setze sein Tod ausgerechnet mir am meisten zu. Möglicherweise deshalb, weil Rönne seine letzten Worte an mich gerichtet hatte. Ich habe verloren. Ja, das hast du tatsächlich, norwegischer Erdfahrer, dachte ich. Du hättest deine Lohntüte nehmen und mit mir zurück nach Tromsø fahren können. Hättest du doch bloß ein paar Tage gewartet. Jetzt aber war er bei Gottfried Brehm. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Schließlich marschierte auch ich in die Station.
Wie immer saßen die Männer im Kasino. Im Raum hing eine Ausdünstung nach Schweiß, Bier und schlechtem Atem. Zusätzlich lagen Angst und Ohnmacht in der Luft. Langsam starrte ich in die Runde. Ich brauchte nichts zu sagen. Obwohl Marit und die Männer meinen Blicken auswichen, stand in ihren Gesichtern geschrieben, was sie dachten. Jeder einzelne von ihnen war Schuld am Tod des Kameraden! Doch wer war ich, daß ich über andere richtete? Ich fühlte mich genauso schuldig und kam mir vor, als halte ich mir selbst eine Waffe an die Schläfe. Die Stimmung war gedrückt, auf dem Tiefpunkt angelangt. Ich durfte nicht länger warten. Zögernd trat ich in ihre Mitte.
»Das Projekt ist zu Ende. Hier sind eure Lohntüten. Packt eure Sachen. Anschließend vernageln wir die Schachtöffnung mit Brettern. In drei Tagen legt die Skagerrak an. Bis dahin muß die Station dichtgemacht sein.«
Diesmal widersprach niemand. Nicht einmal Hansen sagte ein Wort. Mittlerweile mußte sogar der sturköpfige Walfänger einsehen, daß sie verloren hatten. Keiner würde mehr in diesen Schacht fahren. Kein einziger! Unsere Blicke trafen sich für einen Moment. Mehr war nicht nötig. Gewiß sah Hansen in meinen Augen, was ich dachte. Dieser Tod ging auf sein Konto. Dennoch blieb er stumm. Apathisch starrte er zu Boden, und da wußte ich, daß etwas in seinem Kopf vorging, über das er mich nicht informieren würde. Ein Grund mehr, ihn im Auge zu behalten.
Nachdem ich das Mittagessen nicht angerührt und nur eine Tasse Kaffee getrunken hatte, suchte ich in dem Chaos der Schränke nach Rönnes Unterlagen. Es gab weder einen Dienstvertrag noch eine Versicherung bei den Berliner Motoren-Werken. Offiziell arbeitete Rönne gar nicht für das Unternehmen. Ich blätterte durch die schmuddeligen Seiten einiger Akten und persönlichen Dokumente, die ich finden konnte. Demnach hatte Rönne weder Familie noch Hinterbliebene. Es war aber gut möglich, daß Rönne diese Informationen absichtlich verschwiegen hatte, damit ihm die Fremdenlegion nicht auf die Schliche
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