Das Eulentor
Unüberlegtes anstellen konnte, trat Gjertsen an seine Seite. »Hansen kommt wieder.«
»Das bezweifle ich«, widersprach ich.
»Bisher hat der Schacht noch jeden wieder ausgespien!«
Rasch wandte ich mich an Marit. »Wie viele Dieselfässer hat Hansen mitgenommen?«
Marit lief zum Bretterverschlag und öffnete die Tür. Ein Schwall zähflüssigen Diesels schwappte ihr über die Schuhe. »Es sind noch alle da«, flüsterte sie. »Aber …«
Nun kannte ich den Grund für den penetranten Dieselgestank! Ich starrte auf sieben Fässer. In jedes davon hatte Hansen ein Leck geschlagen, um zu verhindern, daß wir ihm folgten. Alles in allem befanden sich auf dem Boden der Fässer vielleicht noch so viele Gallonen, daß wir die Station drei Tage lang notdürftig mit Strom versorgen konnten. Da wurde mir klar, daß Hansen weder zurückkehren würde, noch gerettet werden wollte. Meine Gedanken überschlugen sich. Wir hatten so vieles miteinander durchgemacht, ich konnte den verrückten Walfänger nicht im Stich lassen. »Macht die zweite Gondel abfahrbereit«, sagte ich schließlich.
Nilsen ballte die Fäuste. »Ich komme mit.«
»Ich fahre allein«, bestimmte ich.
Gjertsen runzelte die Stirn. »Und womit wollen Sie den Generator in Betrieb nehmen, um wieder raufzufahren?«
Ich starrte auf die lecken Fässer. »Wir brauchen kein Licht in der Station. Die Mitternachtssonne reicht vollkommen aus, damit wir nicht im Dunkeln sitzen«, dachte ich laut. Dann wandte ich mich an Marit, Gjertsen und Nilsen. »Sammelt alle Dieselvorräte ein, die ihr in der Station finden könnt. Leert jeden Behälter, auch jene, die draußen stehen und den Generator für die Außenbeleuchtung antreiben. Und dann geht ins Vorratslager, dort müßten sich noch Reserven befinden. Mit etwas Glück bekommen wir zwei Fässer zusammen.«
Die drei starrten mich an.
»Sofort!«
Sie zuckten zusammen, setzten sich aber im nächsten Moment in Bewegung. Als ich mich allein im Raum befand, schaltete ich den Generator aus, der den Strom für die Schachtbeleuchtung produzierte. Wollte ich mit Hansen wieder heil nach oben kommen, durfte kein Tropfen Treibstoff verschwendet werden. Im nächsten Moment erloschen die Lampen in der Felswand. Nun wußte Hansen, daß wir seine Flucht bemerkt hatten, und er mußte ab sofort in vollkommener Dunkelheit in die Tiefe fahren. Aber vielleicht war er so schlau und hatte eine Petroleumlampe mitgenommen. Das führte mich zu der Frage, was ich selbst mitnehmen sollte. Die Zeit drängte, also begann ich mit dem Wichtigsten. Zugleich war es auch das Schlimmste. Einmal, zweimal atmete ich tief durch, dann ging ich zu Björn. Es mußte sein – je schneller, desto rascher hatte ich es hinter mir. Ich stemmte dem Norweger ein Bein auf die Brust, preßte den toten Körper gegen die Wand, packte den Spaten und riß an. Das knackende Geräusch ließ mich zusammenzucken. Als ich die Schaufel aus seinem Körper wand, glaubte ich, Björns Brustkorb breche nach außen auf. Ich schloß die Augen und zerrte weiter am Griff. Dieses Geräusch! Schreckliche Bilder entstanden in meinem Kopf. Die Übelkeit drückte mir gallige Magensäure die Kehle empor. Schließlich hatte ich den Spaten in der Hand und lief damit nach draußen.
Rönnes Grabhügel war schneebedeckt. Ohne zu zögern trieb ich die blutige Schaufel in die gefrorene Erde. Ich arbeitete wie besessen, der Schweiß lief mir trotz der Kälte über den Rücken. Schon bald stieß ich auf die Holzkiste. Ich legte die Truhe frei, setzte den Spaten unter dem Deckel an und brach ihn auf. Knirschend splitterten die Bohlen. Zwar hatte ich mir geschworen, Rönnes Anblick zu meiden, doch ein innerer Zwang trieb mich dazu, ihm ins Gesicht zu sehen. Am Tag zuvor hatte ich versucht, jene Teile notdürftig zu bandagieren, die von seinem Kopf übriggeblieben waren. Nun spiegelte sich das dunkle, violette Licht der Mitternachtssonne in seinen Pupillen. Er lag mit offenen Augen im Sarg und starrte in den Himmel, dabei hätte ich schwören können, ich hatte seine Augen geschlossen. Seitlich in der Stirn prangte unter den Bandagen das rote Einschußloch, welches sich Rönne selbst zugefügt hatte. Selbstmördern war der Zutritt zum Himmel verwehrt, war mein einziger Gedanke, während ich in das fahle, zu Schrecken erstarrte Gesicht blickte. Wo befand sich Rönnes Seele in diesem Moment? Ich wollte seine Augen schließen, mußte sie schließen, da ich mir einredete, daß er sonst keine Ruhe finden
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