Das Evangelium nach Satan
den Nacken, gleichzeitig steigt ihr Parfümgeruch in die Nase. Sie wendet den Kopf zu der jungen Frau, die sich an ihren Tisch gesetzt hat. Braune Haare, hübsche graue Augen, sehr weiße Haut. Zwischen den blassrosa Lippen leuchtend weiße Zähne.
»Sie wünschen?«
»Ich würde gern mit Ihnen zusammen essen. Ich finde es gar nicht schön, allein zu essen.«
Die Stimme passt zu dem anrührenden Zauber, den ihr Anblick ausstrahlt. Angenehm und eigenwillig. Ohne Marias Zustimmung abzuwarten, legt sie ihren Anorak ab. Der Pullover darunter betont ihre Figur. Um den Hals trägt sie ein dünnes Goldkettchen mit einem Kreuz daran.
»Ich heiße Parks. Maria Parks.«
Die junge Frau schüttelt ihr die Hand, wobei Maria unwillkürlich leicht zusammenzuckt: die Hand der Unbekannten fühlt sich eiskalt an, als sei sie ohne Handschuhe durch den Schneesturm gegangen.
»Und Sie?«
»Ich bin Nonne und versuche im Auftrag der Wunder-Kongregation im Vatikan den Morden an den Weltfernen Schwestern auf die Spur zu kommen. Ich folge Ihnen seit Boston, um Sie zu schützen.«
Unwillkürlich krallt sich Marias Hand in die der jungen Frau.
»Wovor?«
»In erster Linie vor Ihnen selbst. Dann aber auch vor den Weltfernen Schwestern. Sie wissen es nicht, aber Sie schweben in großer Gefahr, Maria Parks.«
»Wie soll ich mich Ihrer Ansicht nach verhalten?«
»Wer nicht selbst Nonne ist und die dort üblichen Verhaltensweisen kennt, hat kaum Aussichten, ins Kloster von Holy Cross zu gelangen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Man kann die Weltfernen Schwestern nicht mit anderen Nonnen vergleichen. Sie gehören einem sehr alten Orden an, der ganz zu Beginn des Mittelalters in Europa gegründet wurde und die dort üblichen Gebräuche weiterpflegt, seit er um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hier in den Vereinigten Staaten ebenfalls Klöster gegründet hat. Die Geheimhaltung dieser Hüterinnen der verbotenen Handschriften der Kirche übertrifft bei Weitem alles, was Sie sich vorstellen können. Sie misstrauen von alters her jedem, vor allem aber solchen Menschen, die ihre Nase in die Angelegenheiten des Ordens stecken wollen.«
»Soll das heißen, dass sie bereit wären zu töten, um ihre Geheimnisse zu bewahren?«
»Sagen wir lieber, dass Sie, solange Sie sich dort aufhalten, ganz und gar von dieser Gemeinschaft abhängig sein werden. Man würde Sie pflegen, sollten Sie einen Unfall haben, und die Hilfsdienste mobilisieren, falls Sie in Lebensgefahr geraten sollten. Sie müssen sich darüber klar sein, dass es sich bei diesen Klöstern um alte und finstere Gebäude handelt, ohne Strom und fließendes Wasser. Dort leben die Schwestern ebenso zurückgezogen wie einst im Mittelalter.
Für sie hat die Außenwelt mit ihren Gesetzen nicht die geringste Bedeutung. Sie kennen weder Fernsehen noch Zeitungen oder das Internet. Glauben Sie mir, Maria Parks, an einem solchen Ort kann alles Mögliche geschehen.«
»Was raten Sie mir also?«
»Bleiben Sie nach Sonnenuntergang stets in Ihrer Zelle, denn die Weltfernen Schwestern schlafen nie. Warten Sie die Gebetsstunden ab, wenn sie die Bibliothek mit den verbotenen Werken aufsuchen und sich die Schriften näher ansehen wollen, mit denen sich die ermordete Schwester unmittelbar vor ihrem Tod beschäftigt hat. Sie befinden sich in einem geheimen Raum, der die ›Hölle‹ genannt wird. In diesen Schriften werden Sie den Schlüssel zu dem Geheimnis finden.«
»Was für ein Geheimnis?«
»Nach einer langen und mühevollen Untersuchung sind wir zu dem Ergebnis gelangt, dass die Kirche seit Jahrhunderten um jeden Preis eine Lüge zu unterdrücken trachtet. Es handelt sich dabei um einen Vorfall aus der Zeit des dritten Kreuzzugs. Diese Lüge ist so ungeheuerlich, dass die Christenheit unterginge, wenn sie aufgedeckt würde. Darin besteht die eigentliche Aufgabe der Weltfernen Schwestern: Sie sollen die große Lüge unterdrücken und verhindern, dass sich die Seelenräuber in ihren Besitz bringen.«
»Die Seelenräuber?«
»Bei unseren Nachforschungen sind meine Mitschwestern und ich im Kloster von Holy Cross vor einigen Wochen auf Auszüge aus dem Satansevangelium gestoßen, an denen die Ermordete gearbeitet hat. Dabei handelt es sich um Pergamente aus dem Mittelalter, mit denen sich dieser Geheimorden seit Jahrhunderten beschäftigt, während man zugleich versucht, die ursprüngliche Handschrift wiederzufinden. Aus diesem Grund hat das Wesen, das uns bei Hattiesburg umgebracht hat,
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