Das Evangelium nach Satan
um in die Wirklichkeit zurückzukehren. Das Gesicht der jungen Frau verschwimmt. Der Fahrer bremst scharf, hupt und beschleunigt wieder. Weiter geht es durch Schlaglöcher über die von Bäumen gesäumte Straße, die wie Gitterstäbe eines Gefängnisses an der schmutzigen Scheibe vorüberziehen. Wie schwer Carzos Lider sind!
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Maria drückt ihre Zigarette aus und beschließt, die Suche auf das ganze zwanzigste Jahrhundert auszudehnen. Es dauert eine Weile, bis das System die Ergebnisse liefert. Hundertzweiundsiebzig Einträge – Satanisten, Prediger und mormonische Serienmörder. Auch Leichen gibt es, reichlich Leichen. Sie lässt die Liste rasch durchlaufen und sieht aufmerksam hin. Einige Fälle erregen ihre Aufmerksamkeit.
19. April 1993: Massaker der Sekte der Davidianer im texanischen Ort Waco. Vierundsiebzig Jünger des David Koresh begehen Selbstmord, während das FBI das Hauptquartier der Sekte stürmt.
12. Juni 1974: In Höhlen einer Menschenfresser-Sekte bei Wilmington in Arkansas werden dreizehn Skelette entdeckt.
23. September 1928: Kollektiver Selbstmord der Adventistengemeinde von Greensboro in Alabama. Rund sechzig Erleuchtete, die das Tor zum Himmel entdeckt zu haben glaubten, hatten ihren geistlichen Anführer gekreuzigt und anschließend Selbstmord begangen, indem sie sich mit dem Kinn an Fleischerhaken aufhängten.
Als Maria das damals von der Polizei in Greensboro aufgenommene SchwarzWeiß-Foto betrachtet, stößt sie einen leisen Pfiff aus. Sechzig Leichen, wie Rinderkadaver im Lagerraum eines Schlachthofs aufgereiht.
Als ihr Blick auf ein weiteres Suchergebnis fällt, schlägt ihr Herz wild in der Brust. Sie hält den Durchlauf an und kehrt mit der Maus zu der Stelle zurück. Dann liest sie: 26. August 1913 – in einem Kloster von Kanab im Staate Utah hat man eine alte Nonne gekreuzigt aufgefunden.
Sie klickt auf den Eintrag. Ein Ausschnitt aus der Zeitung Kanab Daily News vom 27. August erscheint auf dem Bildschirm. Im Leitartikel heißt es, man habe im Park des Klosters eine alte Nonne gekreuzigt und mit aufgeschlitztem Unterleib aufgefunden. Ihr Name war Angelina, und sie gehörte zum Orden der Weltfernen Schwestern.
Mit ausgedörrter Kehle gibt Maria so viele Angaben wie möglich in die Maske ein, um die Suche zu verfeinern: durch Kreuzigung ermordete Angehörige des Ordens der Weltfernen Schwestern in den Jahren 1912/13/14; ein Mörder mit Narben; ein Mönch; Kennzeichen INRI. Daraufhin blinken auf einer Landkarte der Westküste Kanadas und der Vereinigten Staaten vier rote Leuchtpunkte auf.
April 1913: Erster Mord im Kloster der Weltfernen Schwestern von Mount Waddington in British-Columbia. Am 11. Juni desselben Jahres wird eine Weltferne Schwester im Kloster von Mount Rainier in der Nähe von Seattle ermordet. Am 13. August ein weiterer Mord im Kloster von Lassen Peak in der Nähe von Sacramento. Ihm folgt zwei Wochen darauf der Mord an Schwester Angelina in Kanab.
Maria geht die Archive des Kanab Daily News durch. Am 28. August 1913, das heißt, zwei Tage nach dem Mord, wird gemeldet, dass die Männer des Sheriffs den Mörder Schwester Angelinas festgenommen haben, als er sich ihnen über die Grenze in den Nachbarstaat zu entziehen versuchte. Aufmerksam sieht sich Maria das dem Artikel beigegebene SchwarzWeiß-Foto an. Berittene Polizeibeamte führen einen Mönch an einer Kette durch die Straßen, und die Honoratioren von Kanab ziehen jubelnd den Zylinder, wobei sie ihm vermutlich Schmähungen zurufen und ins Gesicht spucken.
Auf dem nächsten Foto sieht man, dass jemand ein Seil über einen Ast geworfen hat. Man hat den Mönch mit hinter dem Rücken gefesselten Händen auf ein Pferd gesetzt. Ein Gehilfe des Sheriffs legt ihm die Schlinge um den Hals. Das Bild ist unscharf, doch erkennt Maria, dass der Mörder in die Kamera lächelt. Das Lächeln scheint den Fotografen hinter dem Tuch zu gelten oder denen, die in späteren Jahren das Foto betrachten würden. Maria lässt sich den Ausschnitt vergrößern.
Während das System Bildpunkte hinzufügt und den Kontrast verstärkt, um die Unschärfe zu mildern, wendet sich Maria erneut dem Bild von Kalebs Gesicht zu, das sie mithilfe des morphologischen Computerprogramms hat wiederherstellen lassen. Jetzt ruft sie ein weiteres Programm auf, das Kalebs Züge verjüngen soll. Vor ihren Augen wird das Bild des Mörders allmählich heller, während die Furunkel und Narben zurückgehen. Nach einer Weile teilt ihr das Programm mit,
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