Das Evangelium nach Satan
handele es sich um ein in einer ihr unbekannten Fremdsprache verfasstes Dokument. Dann verschwinden ihre Augen, und ein faltiger Mund wird sichtbar: »Solche Dinge zählen hier nicht, mein Kind. Ziehen Sie Ihres Weges, und lassen Sie uns in Ruhe.«
»Bitte entschuldigen Sie, wenn ich mich nicht abweisen lasse. Falls Sie nicht umgehend öffnen, sehe ich mich genötigt, morgen mit einer Hundertschaft bewaffneter Polizeibeamten zurückzukommen, die sich ein Vergnügen daraus machen würden, Ihr Kloster mal richtig auf den Kopf zu stellen. Wollen Sie das?«
»Dies Kloster genießt denselben exterritorialen Status wie der Vatikan, mithin darf niemand es ohne Genehmigung aus Rom oder von unserer Oberin Abigail betreten. Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt, und unser Herr Jesus möge Sie auf all Ihren Wegen schützen.«
Als die alte Nonne die hölzerne Klappe hinter dem Gitter schließen will, entscheidet sich Maria, alle Karten auf den Tisch zu legen.
»Sagen Sie Ihrer Mutter Abigail, dass das Wesen, das Ihre Mitschwester umgebracht hat, in Hattiesburg getötet worden ist.«
Die Klappe bleibt auf halbem Weg stehen und wird erneut geöffnet. Wieder taucht der faltige Mund auf.
»Was sagen Sie da?«
»Kaleb ist tot, aber ich fürchte, dass sein Geist nach wie vor unter uns ist.«
Durch das Toben des Windes hört sie Schlüssel klirren. Dann werden die Riegel einer nach dem anderen zurückgeschoben, und der schwere Torflügel öffnet sich. Beim Anblick der gebeugten Frau, die da vor ihr steht, fragt sich Maria unwillkürlich, wie alt sie wohl sein mag.
Ganz wie vermutet, erhebt sich hinter dem Tor eine steile und lange steinerne Treppe, deren Stufen in den Fels geschlagen sind. Sie wirkt alt und genau so finster wie jene, die zur Krypta der Kirchenruine bei Hattiesburg hinabführte. Maria schließt die Augen und spürt einen eiskalten Luftzug. Sie durchschreitet das Tor und setzt den Fuß auf sandbedeckten Boden. Dabei hat sie das Gefühl des freien Falls, so, als wäre jede ihrer Körperzellen mit rasender Geschwindigkeit durch die Zeit gereist.
Drinnen scheint die Dunkelheit noch tiefer zu sein als die Schwärze der Nacht. Die Luft wirkt durchsichtiger und die Flamme der Fackel heller und lebendiger. Es riecht nach Schwefel und mit Jauche gedüngtem Gemüsegarten. Der Geruch des Mittelalters. Während sich das Portal mit knirschenden Angeln schließt, wird Maria von Panik erfasst. Sie befindet sich jetzt in einem Grab.
5
»Folgen Sie mir, und verlieren Sie mich auf keinen Fall aus den Augen.«
Mit der knisternden Fackel in der Hand, beginnt die Nonne erstaunlich flink die Treppe zu erklimmen. Es sind Hunderte von Stufen. Maria bemüht sich, mit ihr Schritt zu halten. Maria kommt der Gedanke, dass die Alte wohl auf allen Vieren die Treppe hinaufgaloppieren würde, wenn sie nicht die Fackel halten müsste. Hör doch auf zu spinnen …
Schon bald verliert sie jeden Zeitbegriff. Ihre Schenkel und Knie brennen von der Anstrengung des Treppensteigens. Wenige Schritte vor ihr wirft das Licht der Fackel riesige Schatten. Es scheint sich von ihr zu entfernen, als hätte die alte Nonne den Schritt beschleunigt. Maria beeilt sich. Sie hat Angst. Es kommt ihr vor, als müsse sie ersticken. Wie an jenem Tag, als sie mit acht Jahren einen Tunnel im Sand gegraben hatte und hineingekrochen war. Er war so lang, dass nur noch ihre Füße herausschauten, als er in sich zusammenbrach. Genau dies Gefühl, ersticken zu müssen, drückt ihr jetzt wieder die Kehle zu, während sie der Nonne folgt.
Die letzte Treppenstufe. Jetzt geht es durch einen steilen Gang weiter aufwärts. Sie schreitet rasch voran, ohne den Blick von der Flamme zu nehmen, die im Luftstrom tanzt und schwere, für einen flüchtigen Augenblick der Finsternis entrissene Zellentüren zeigt. Marias Herz schlägt heftig, und ihre Haare richten sich auf: Sie hat Krallenhände gesehen, die sich an Gitterstäbe klammern. Wachsbleiche Gesichter beobachten ihr Vorübergehen. Irgendwo hört sie ein Flüstern. Erneut beschleunigt sie den Schritt, um den Anschluss an die Fackel nicht zu verlieren, die sich wieder ein ganzes Stück entfernt hat. Dann endet der Gang am Fuß einer weiteren Treppe, und sie merkt, dass sich die Nonne einige Meter über ihr befindet. Maria verfehlt die erste Stufe und kann sich mit einem unterdrückten Fluch im letzten Augenblick noch an den Gitterstäben einer Zelle festhalten. Eine Bewegung hinter ihr, das Rascheln eines Kleidungsstücks. Gerade,
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