Das Evangelium nach Satan
gerade erreicht haben. Eine dicke Schneeschicht bedeckt steinerne Standbilder. Ein riesiger Bronzechristus mit weit aufgerissenen Augen, der an einem Kreuz auf der freien Fläche hängt, scheint zuzusehen, wie Maria vorübergeht. Während sie ihn flüchtig mustert, fragt sie sich, was die Nonnen wohl empfinden mögen, wenn sie Jahr um Jahr, Tag für Tag unter dem kalten Blick dieser Figur über das Pflaster des Kreuzgangs schreiten.
Als die alte Nonne unter das Dach tritt, sieht Maria, dass sie abgetretene Sandalen trägt. Sie schüttelt die Schneereste von den strumpflosen Füßen und betritt dann durch einen steinernen Torbogen das Hauptgebäude. Maria stößt mit den Spitzen ihrer Schuhe gegen die Mauer, um den Schnee loszuwerden. Sie ist sich der Blicke des Gekreuzigten in ihrem Rücken bewusst, als sie in einen breiten und hohen Gang eintritt, in dem es nach Staub und Wachs riecht. An den Wänden wechseln die Darstellungen wichtiger Heiliger mit Gipsbüsten und Kreuzwegstationen ab. Zahllose Bilder, an denen sie im Halbdämmer vorüberkommt, konfrontieren sie immer wieder mit den Augen des Gekreuzigten. Auf allen scheint der jeweilige Maler Wut und Verzweiflung in deren Blick hineingelegt zu haben. Wohin auch immer sie sieht: Überall fühlt sie sich von diesen Augen beobachtet.
»Mutter Abigail ist bereit, Sie zu empfangen.«
Maria fährt zusammen, als sie vom anderen Ende des Gangs her die Stimme der alten Nonne hört. Sie hat ihre Fackel in einen Wandhalter gesteckt und öffnet eine schwere Tür, durch die ein Arbeitszimmer mit alten Wandteppichen erkennbar wird.
Beim Eintreten fällt Maria der in der Luft hängende kräftige Geruch nach Wachs auf, der mit dem nach Honig vermengt ist. Ein Feuer knistert im Kamin. Als sich die Tür schließt, tritt sie über knarrende Bodendielen an den eichenen Schreibtisch heran, hinter dem Mutter Abigail sitzt. Kerzen stecken in alten Leuchtern – daher wohl der Geruch. Die alte Oberin ist von erstaunlicher Hässlichkeit, und ihre Züge wirken so scharf, als sei ihr Gesicht aus einem Eisblock geschnitzt. Über ihre Wangen verlaufen dünne senkrechte Narben. Unwillkürlich muss Maria an die Verletzungen denken, die sich Irre mit ihren Fingernägeln zufügen.
»Wer sind Sie, und was wünschen Sie?«
»Ich bin Special Agent Maria Parks, Ehrwürdige Mutter. Ich habe den Auftrag, den hier in diesem Kloster begangenen Mord zu untersuchen.«
Mit ärgerlicher Geste wischt die Oberin die Antwort beiseite.
»Sie haben der Schwester, die Sie hergeführt hat, gesagt, das Wesen, das unsere Schwester umgebracht hat, sei in Hattiesburg umgekommen?«
»Ja, Ehrwürdige Mutter. Beamte des FBI haben es erschossen. Es handelt sich um einen gewissen Kaleb, einen Mönch.«
»Er ist weit mehr als das.«
Nach diesen Worten stößt Mutter Abigail einen besorgten Seufzer aus.
»Wie können Sie sicher sein, dass er und kein anderer unsere Schwester getötet hat?«
»Dank der Nonnen, die ihn im Auftrag des Vatikans verfolgt haben.«
»Soll das heißen, dass Mary-Jane Barko und ihre Mitschwestern ihn schließlich aufgespürt haben?«
»Nein, Ehrwürdige Mutter. Kaleb hat sie alle nacheinander entführt und gekreuzigt.«
»Wo befindet er sich gegenwärtig?«
»Im Leichenkeller des Liberty Hall Hospitals von Boston.«
Mutter Abigail richtet sich starr in ihrem Sessel auf, als habe ein plötzlicher Stromstoß sie durchfahren. »O Herr, soll das heißen, dass Sie das Ungeheuer nicht verbrannt haben?«
»Hätten wir das tun sollen?«
»Ja, andernfalls kehrt es zurück. Es kehrt immer wieder zurück. Man glaubt, es sei tot, aber es kommt wieder.«
»Was kommt wieder?«
Die alte Nonne muss husten und hält sich die Hand vor den Mund. Als sie wieder das Wort an sie richtet, merkt Maria an der Art, wie sie spricht, dass sie an einem Lungenemphysem leiden muss.
»Special Agent Parks, vielleicht könnten Sie mir den genauen Grund Ihrer Anwesenheit hier erläutern?«
»Ich muss in Augenschein nehmen, woran Ihre Mitschwester unmittelbar vor ihrer Ermordung gearbeitet hat. Meiner festen Überzeugung nach befindet sich der Schlüssel zu all diesen Verbrechen irgendwo in der Bibliothek Ihres Klosters.«
»Sie scheinen keine Vorstellung von der Gefahr zu haben, die Ihnen droht.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie mir die Erlaubnis dazu nicht geben wollen?«
»Ich will damit sagen, dass Sie sich mindestens dreißig Jahre lang gründlich mit diesen Werken beschäftigen müssten, um etwas
Weitere Kostenlose Bücher