Das Evangelium nach Satan
Aztekentempels in ihn eingedrungen war. Es hatte sich in seinem Geist verborgen gehalten und dort auf den Augenblick gewartet, da es sich seiner bemächtigen konnte.
Carzo hatte die Augen wieder geöffnet. Die Farben hatten sich geändert, auch die Gerüche. Dann das Kribbeln in seinen Fingerspitzen, als er die Hände um Marias Kehle schloss … Herr, wie gern hätte er seine Zähne in dies feste Fleisch geschlagen und gespürt, wie ihm das Blut der jungen Frau über die Lippen lief. Marias Parfüm, etwas mit Ingwer. Der Priester hatte sich gegen diese Versuchung gewehrt. Das Wesen war zusammengefahren, als es die Anwesenheit des Exorzisten bemerkt hatte. Eine tiefe und zugleich melodische Stimme hatte gefragt: »Bist du das, Carzo?«
Schweigen.
»Sie gehört jetzt mir. Also lass mich sie beißen, oder ich verschlinge ihre Seele.«
In diesem Augenblick hatte Maria die Augen geöffnet. Sie hatte gesagt, dass sie wisse, wo sich das Evangelium befinde. Das Wesen hatte geantwortet: »Ich auch.«
Dann war Carzo mit seinen Kräften am Ende gewesen.
Die Finsternis.
Stille.
12
Carzo blinzelt im Dämmerlicht. Immer wieder schlägt die Abteiltür rhythmisch gegen den Rahmen. Am Boden rollt eine leere Bierdose hin und her, wenn der Zug über eine Weiche rattert. Als Carzo das Knirschen von Metall hört, fährt er zusammen. Er sieht auf seinen Fuß, der die Dose zertreten hat. Die Stimme des Wesens hallt im Abteil. Es scheint erstaunt.
»Bist du noch da, Carzo?«
Die Stimme des Priesters antwortet: »Was hast du mit Maria gemacht?«
»Was meinst du?«
»Kenne ich dich?«
»Ich kenne dich besser als du mich, Ekenlat.«
Carzo zuckt zusammen. Ekenlat. In der Sprache der Seelenräuber bedeutet das Wort tote Seele. Endlich kann der Priester einen Namen mit der Stimme des Wesens verbinden. Gegen diesen Dämon hat er im Laufe seiner Tätigkeit als Exorzist mehrfach gekämpft, in Kalkutta, Belém, Bangkok, Singapur, Melbourne und Abidjan. Jedes Mal hatte das Wesen die Oberhand behalten, Kaleb, der Fürst der Seelenräuber. Ein Geist, der ebenso alt war wie die Welt, dessen Dämonenname Baphomet lautete, Satans Erzengel, der mächtigste der Ritter der Tiefe. Wie im Aztekentempel, wo er versucht hatte, die äußerste Besessenheit auszutreiben, begreift Carzo, dass sein Glaube gegen eine solche Schwärze nichts vermag. Die äußerste Besessenheit. Er spürt, wie sich Entsetzen in ihm ausbreitet. Erneut sieht er den Kerzenkreis und das Wesen, das einst Maluna war und das ihm lächelnd entgegensieht, als er sich in der Dunkelheit nähert. Kaleb. Er hatte all die Fälle von Besessenheit auf der ganzen Welt ausgelöst. Seinetwegen wiederholten alle Besessenen den Namen Carzo. Die Litanei der Toten. Auf diese Weise hatte ihn Kaleb gezwungen, der Fährte der äußersten Besessenheit zu folgen. Und sie hatte im Herzen des Gebiets der Yanonámi geendet, wo der Fürst der Seelenräuber das große Übel aufgeweckt hatte, bevor er in Maluna fuhr. O mein Gott …
Als Carzo an jenem Tag in den Kerzenkreis trat, war er vor Kaleb auf die Knie gesunken und hatte ihn angebetet. Dabei hatte ihn der Dämon berührt und war in ihn gefahren.
Jetzt lacht Kaleb.
»Ich sehe, dass du endlich begriffen hast, Carzo. Nun ist für dich der Augenblick gekommen zu sterben.«
13
Durch Kalebs Augen sieht Carzo die Handschrift, die er mit eigenen Händen aus einer Tuchhülle nimmt. Das Satansevangelium, das der Seelenräuber aus den Tiefen des alten Wehrklosters in den Dolomiten geholt hat und jetzt in den Vatikan bringt.
»Warum?«
Das Tier lächelt in der Finsternis.
»Warum was, Carzo?«
»Warum ich?«
»Weil du der beste von allen bist. Du erkennst den Gestank der Heiligen und den Geruch der Dämonen. Ich begleite dich seit deiner Geburt. Ich gebe deinen Gedanken ihre Richtung und flüstere deinem Geist ein, was er tun soll. Ich war im Schrank deines Zimmers versteckt, wenn du abends einschliefst. Ich habe in der Schule hinter dir gesessen und in der Pause mit dir auf dem Hof gespielt. Ich war überall da, wo du warst.«
»Das stimmt nicht.«
»Ach nein? Und was ist mit den sonderbaren Gerüchen, die du wahrgenommen hast, wenn du an Menschen vorüberkamst? Der Wohlgeruch des Hasses, der Gestank der Güte und der Duft der Triebe. Du brauchtest einen Menschen nur ganz leicht zu berühren, um zu wissen, ob er gut oder vom Grund seines Wesens auf verdorben war. Du wusstest, ob er schon einmal getötet hatte oder ehrenamtlich in einer
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