Das Evangelium nach Satan
Lichtkreis. Jetzt erhellt er die Wände einer mit einer Mauer verschlossenen Nische. Dort scheint Maria zu schlafen. Sie hat die Augen geschlossen, und ihre Tränen glitzern im Schein der Kerze.
15
Der Docht der Kerze knistert. Die Flamme ist jetzt so schwach, dass ihr Licht nur noch ein orangefarbener Fleck in der Dunkelheit ist. Maria hört Mutter Isoldes Stimme: Schon seit Stunden fleht sie Gott an, er möge ihr Leiden lindern. Aber es gelingt der Oberin nicht zu sterben.
Gerade, als ihr die Sinne zu schwinden beginnen, hört sie Schritte auf der Treppe. Sie lauscht. Die Stimme von Schwester Bragantia ruft nach ihr. Die Füße der Toten scharren auf den Stufen. Schnüffelnd bleibt sie am Fuß der Treppe stehen. Sie weint nicht mehr. Jetzt Stille. Maria ringt nach Luft. Der orangefarbene Lichtfleck kann jeden Augenblick dahinschwinden. Dunkelheit hüllt die Oberin ein, die lautlos schluchzt.
Ein kratzendes Geräusch. Bragantia fährt mit der Hand über die Wände und flüstert wie ein Kind beim Versteckspiel: »Flieht nicht weiter, Ehrwürdige Mutter. Kommt mit uns. Wir sind alle da.«
Daraufhin ertönt weiteres Flüstern. Maria lauscht. Zwölf Paar tote Hände tasten zugleich mit denen Bragantias an den Mauern entlang. Die Toten aus den dreizehn Gräbern.
Als das Geräusch dort aufhört, wo sie sich befindet, hält Maria den Atem an, um ihre Anwesenheit nicht zu verraten. Stille. Ein Schnüffeln von der anderen Seite der Wand. Schwester Bragantia hat die Lippen auf den Stein gelegt und erneut angefangen zu flüstern: »Ich spüre, dass du da bist.«
Das Schnüffeln kommt näher.
»Hörst du mich, alte Sau? Ich kann dich riechen.«
Maria bemüht sich, nicht zu schreien. Nein, das Wesen, das in Schwester Bragantias Leib gefahren ist, riecht sie nicht. Warum würde es sich sonst die Mühe machen, nach ihr zu rufen? Mit aller Kraft klammert sie sich an diese Gewissheit. Dann merkt sie, dass sie zu ersticken droht, weil sie immer noch die Luft anhält. Lange kann sie nicht durchhalten. Während große Tränen des Mitleids weiße Spuren auf dem Schmutz hinterlassen, der ihre Wangen bedeckt, spürt sie, wie sich Mutter Isoldes eiskalte Hände um ihren Hals schließen. Sie versucht, sich dagegen zu wehren, dass ihr die Oberin die Fingernägel in die Kehle treibt, um sie rascher erwürgen zu können. Sie spürt, wie ihr das Blut am Hals entlangläuft. Sie ist dem Tode nahe. Sie schließt die Augen. Auf der anderen Seite der Mauer setzen Schwester Bragantia und die anderen toten Nonnen flüsternd und voll Wut ihre Suche fort.
16
Die in die Wand eingelassene Tür zum Vorraum der Bank öffnet sich automatisch, als Giovanni die oberste Stufe der Treppe erreicht hat. Eine knappe Stunde hat er sich im Tresorraum aufgehalten. Er verabschiedet sich von der jungen Frau hinter dem Schalter und tritt mit der Mini-DVD in der Tasche seiner Soutane hinaus auf die Straße. Inzwischen steht die Sonne hell am Himmel, und es wird schon warm.
Er sieht zum Hauptmann der Schweizergarde hinüber und verharrt mitten in der Bewegung. Cerentino hat verneinend den Kopf geschüttelt. Er sieht nach rechts. Langsam rollt eine Luxuslimousine an ihm vorüber. Im Fond erkennt er Giancarlo Barbi, den Direktor der Lazio-Bank – er sieht genauso aus wie auf dem Gemälde in der Bank. Bei ihm sind drei Leibwächter. Als Barbi den Kopf hebt, sieht er Giovanni und lässt mit fahriger Bewegung die Papiere fallen, mit denen er sich beschäftigt hat. Während der Wagen weiterrollt, wendet er den Kopf und sieht unausgesetzt zu ihm hin. Schlagartig begreift Giovanni, welchen Fehler er begangen hat: Der Mann hat das Kreuz der Armen erkannt, das dem Kardinal deutlich vor der Brust hängt. Nach Eingabe der Kombination für den Zugang zum Panzerschrank von Valdez, die er von der Rückseite des Kreuzes ablesen musste, hat er vergessen, es wieder unter seiner Soutane zu verbergen.
Ein Blick nach links. Der Wagen ist wenige Meter entfernt stehengeblieben. Die Einfahrt zu einer Parkgarage öffnet sich. Giovanni sieht zu Cerentino hin. Erneut schüttelt dieser den Kopf zum Zeichen, dass er sich nicht von der Stelle rühren soll. Dann eilt Cerentino gebückt an den geparkten Autos entlang.
Ohne darauf zu warten, dass ihm der Fahrer die Tür öffnet, steigt der alte Barbi aus. Umgeben von seinen Leibwächtern, die schwarze Anzüge tragen und Hörer im Ohr haben, nähert er sich auf seinen Stock gestützt Giovanni. Keiner der Leibwächter sieht, dass Cerentino
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