Das Evangelium nach Satan
sie ihrem Trieb erliegen.
Auf diese Weise hatte Maria die Spur des Serienmörders Harry Dwain wieder aufnehmen können, der Körperteile seiner Opfer vertauschte und beispielsweise einen Frauenarm an einen behaarten Rumpf nähte und Männerschenkel an den Unterleib einer Frau ansetzte.
Zwei Jahre, nachdem die Serie in den Vororten von Chicago mit einem Schlag aufgehört hatte, waren Mordfälle mit diesem Merkmal aus Sankt Petersburg gemeldet worden. Eigentlich hatte man angesichts der langen Zeit, die verstrichen war, angenommen, Dwain lebe nicht mehr. Dann hatte Maria beim Vergleich der eingehenden Informationen entdeckt, dass auch in anderen Ländern Leichen auf die bei Dwain übliche Weise zerstückelt worden waren. Offenbar war das Ungeheuer wieder erwacht. Vier Opfer in den Gassen von Venedig, zwei auf einem Kreuzfahrtschiff vor der türkischen Küste, fünf am Persischen Golf, ein weiteres in Moskau und das letzte in Sankt Petersburg. In all diesen Fällen waren abgetrennte Gliedmaßen durch die anderer Opfer ersetzt worden. Offenkundig zog Harry Dwain inzwischen in der Welt umher und verknüpfte den krankhaften archaischen Trieb des Serienmörders mit dem des planvoll vorgehenden Crosskillers – ein äußerst seltener und zugleich besonders gefährlicher Fall von psychischer Mutation.
Maria hatte sein vollständiges Profil an die russischen Behörden gefaxt, die daraufhin sämtliche Polizeidienststellen des Landes in höchste Alarmbereitschaft versetzt hatten. Dann war sie nach Sankt Petersburg geflogen, wo ihre Visionen sie in eine nach Harz und Holzleim riechende alte Bootshalle am Ufer der Newa führten. Dort, wo Maria die letzten Sekunden des Lebens von Irina miterlebt hatte, fand die russische Polizei das jüngste Opfer: eine unbekannte Prostituierte, die in die alte Zarenstadt gekommen war, um auf deren Prachtboulevards ihr Glück zu machen. Marias Vision war der Wirklichkeit entsetzlich nahe gekommen: Sie hatte das Eindringen des Kreissägeblatts gespürt, das die Gliedmaßen vom Leib trennte und dabei über den Boden streifte. Den Druck der Fesseln, der sich allmählich lockerte. Dwains Stöhnen. Ein Meer von Schmerzen. Doch Maria starb nicht, sie lebte weiter, während Irina tot war.
∗ ∗ ∗
Zwei Tage später hatte die russische Polizei Dwain im Nachtzug nach Berlin gestellt und erschossen. Danach hatte Maria Urlaub genommen, um sich, wie sie sagte, in Kalifornien zu erholen. Das war die einzige Alternative zu einer unerträglichen Depression und einem Selbstmord durch Einnahme von Anxiolytika, den sie sich nicht leisten konnte. Also hatte sie Santa Monica mit seinen Filmproduzenten, den weißen Haien und berühmten Neuropsychiatern aufgesucht. Nach einer gründlichen Untersuchung mit allen verfügbaren Mitteln, Kernspin, Computertomographie, Positronentomographie und Magnet-Enzephalographie, waren sich die Ärzte einig: Sie hatte keinen Tumor, nicht den allerkleinsten.
13
Ihre Diagnose hatte schließlich ein alter deutscher Arzt gestellt, der sich in den unbekannten Regionen des menschlichen Gehirns mühelos zurechtfand. Hans Zimmer hatte sich einst auf die Psychiatrie verlegt, um sich selbst zu heilen. Er hatte ihr erklärt, ihre Visionen gingen auf ein reaktionelles mediales Syndrom zurück. Diese seltene Erscheinung finde sich ausschließlich bei Menschen, die ein multiples Gehirntrauma erlitten hatten. Der Auslöser dafür sei gewöhnlich ein starker Schock, der in die gesamte mentale Tiefenstruktur eingreife. Sie müsse sich das so vorstellen, als sei dabei ein Bereich ihres Gehirns aktiviert worden, von dem nicht vorgesehen war, dass er je in Funktion trat. Es handele sich um ein in der Tiefe verborgenes Gebiet, das bei der Evolution des Menschen aus uns unbekannten Gründen nicht in Anspruch genommen worden sei, sozusagen eine tote Zone, die vielleicht erst in Tausenden von Jahren zum Leben erweckt werden sollte. Neuronales Brachland, jungfräuliche Gehirnstrukturen. Dort warteten inaktive, unverbundene Neuronen wie Milliarden kleiner fabrikneuer Batterien darauf, über eine Leitung irgendwo angeschlossen zu werden, damit sie die in ihnen enthaltene elektrische Energie freisetzen konnten. So und nicht anders müsse man sich das reaktionelle mediale Syndrom vorstellen.
Er hatte ihr genau erklärt, was unter ihrem herrlichen schwarzen Haar abgelaufen sein musste. Das Trauma habe ihr Gehirn in ein tiefes Koma versetzt, damit es sich sozusagen neu erschaffen konnte. Dabei habe es
Weitere Kostenlose Bücher