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Das Evangelium nach Satan

Das Evangelium nach Satan

Titel: Das Evangelium nach Satan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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die gekappten Verbindungen eine nach der anderen wiederhergestellt. Um im Bild der Elektrizitätsübertragung zu bleiben, gebe es da gewissermaßen zahllose Kilometer von Leitungen und Tausende von Leitungsmasten. Ein Neuron für die Farbe Grün, eins für die Farbe Braun, ein weiteres für das Wort Blatt, eins für das Wort Ast, dann noch eins für das Wort Stamm. Fünf Neuronen, die nach und nach wieder miteinander verbunden werden müssen, um erneut das Bild eines im Wald wahrgenommenen Baums zu speichern. Es sei nötig gewesen, Millionen von Bildern auf diese Weise wiederzufinden, Milliarden von Erinnerungen ins Gedächtnis zurückzurufen.
    Auf diese Weise seien in einem tiefen Schlaf, in den aus den für Wörter zuständigen Gehirnregionen nichts habe eindringen können, die Leitungen für das Verstehen und die Erinnerung wiederhergestellt und dann erneut miteinander verbunden worden, um das Gehirn aufs Neue mit Erinnerungen und Bildern zu versorgen.
    Bei einem solchen Prozess aber komme es gelegentlich vor, dass irrtümlich Verbindungen zu den Tabuzonen des Gehirns hergestellt werden, die ursprünglich nicht vorhanden gewesen seien. Das könnten Bereiche sein, die es ermöglichen, ohne Zuhilfenahme der Hände Teelöffel zu verbiegen, die Gedanken anderer Menschen zu lesen, Tische zu rücken und Verbindung mit Verstorbenen aufzunehmen. Es könne sich aber auch, wie in ihrem Fall, um Verbindungen zu bis dahin brachliegenden Gehirnzonen handeln, die bewirken, dass man sich an die Stelle eines von einem Serienmörder umgebrachten kleinen Mädchens oder einer Prostituierten versetzt fühlt, die Harry Dwain in einer alten Bootshalle am Ufer der Newa bei lebendigem Leibe zersägt. So sei das mit dem medialen reaktionellen Syndrom. Da habe sie nun einmal Pech gehabt.
    Der Lernprozess, der es ihr ermöglichte, mit ihren Visionen zu leben, sie zu verstehen und nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, hatte Maria sechs Monate gekostet. Inzwischen konnte sie unterscheiden, ob sie der fernen Vergangenheit angehörten, neueren Datums waren, oder – das war das Schlimmste – gerade stattfanden. Schließlich hatte sie diese zweifelhafte Gabe in den Dienst ihres Berufs gestellt. Im Laufe von fünf Jahren unerträglicher Visionen und ständig wiederkehrender Albträume hatte sie zwölf Serienmörder und vier kaltblütige Crosskiller aufgespürt, die insgesamt sechzig Opfer verstümmelt hatten. Zwei kleine Mädchen hatte sie im letzten Augenblick vor ihrem entsetzlichen Schicksal bewahren können. Doch was heißt da »bewahren« – diese unglücklichen Geschöpfe würden für den Rest ihres Lebens in ihren erstarrten Seelen eingemauert bleiben. Das also war der Grund, warum sich Maria Parks Schlafmittel verschreiben ließ, die sie mit einem Glas Gin Tonic einnahm.

14
    Null Uhr dreißig. Das Klingeln des Telefons zerreißt die Stille der Nacht. Maria fährt hoch. Ihr Mund ist ausgetrocknet, fühlt sich pelzig an. In ihrer Kehle hängt der bittere Nachgeschmack von Alkohol und Zigaretten. Sie nimmt wortlos ab. Bannerman ist am anderen Ende, der Sheriff von Hattiesburg, ein Bär von einem Mann, ständig außer Atem.
    »Parks?«
    »Ich bin zurzeit nicht zu Hause. Sie können mir aber eine Nachricht hinterlassen …«
    »Das ist nicht der richtige Augenblick für Späße, Parks. Wir haben Schwierigkeiten.«
    Maria hört das Zittern in seiner Stimme. Der Mann hat Angst. Sie tastet nach den Zigaretten auf dem Nachttisch, steckt sich eine an und sieht angestrengt auf den kleinen Glutkreis an ihrem vorderen Ende.
    »Parks?«
    Bannermans Angst will sich auf sie übertragen. Um sie zu vertreiben, macht Maria einen tiefen Zug. Der Geschmack von Stroh und feuchter Erde dringt ihr tief in den Rachen. Sie raucht keine Mentholzigarette, keine auf Wohlgeschmack getrimmte, sondern eine ehrliche Old Brown, wie die Cowboys sie lieben, scharf und kräftig.
    »Parks, bist du noch da?«
    »Parks ist nicht da. Pafft nur schnell eine Mitternachtszigarette als Rauchopfer für die Toten, und kriecht dann wieder in Morpheus’ Arme.«
    »Verdammt noch mal, Parks, sag bloß nicht, dass du wieder deine Schlafmittel genommen hast.«
    Wieder hört sie das Zittern in der Stimme des Sheriffs. Es ist sehr viel stärker als zuvor.
    »Wovor hast du Angst, Bannerman?«
    »Dass Rachel was passiert. Sie ist verschwunden.«
    Ihr Magen krampft sich zusammen. Übelkeit steigt in ihr auf. Jetzt ist es passiert: Bannermans Angst ist auf sie übergesprungen. Maria spürt,

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