Das Evangelium nach Satan
Muskeln zittern, nimmt ihr die Kraft und raubt ihr den Atem. Sie bemüht sich, die Anspannung von Armen und Beinen zu vermindern, doch wieder lässt der Druck der Nägel auf ihre Muskeln und Sehnen sie vor Schmerz aufbrüllen, und so verkrampft sich ihr Körper erneut.
Am Rande der völligen Erschöpfung versucht sie, ihre Glieder zu entlasten. Erneut strafft sich alles in ihr, und sie wiederholt den Vorgang, bis sie zu keinem von beiden mehr die Kraft hat. Sie merkt, dass ihre Energie schwindet, gleichgültig, was sie tut, gleichgültig, was ihr Geist dem Körper befiehlt, um sich der Qual zu entziehen, die über sie hinwegflutet. Muskeln und Haut dehnen sich um die Nägel herum, sie stehen kurz vor dem Zerreißen. Sie gibt nicht auf und bricht in Schluchzen aus. Große schwere Tränen quellen aus ihren Augen, aus ihrem Mund kommen Schreie eines Tieres in Todesqual, die in der Dunkelheit der Krypta widerhallen.
Die vier aus Hattiesburg verschwundenen Frauen, die links und rechts von ihr hängen, scheinen zu ihr herzusehen. Da sich ihr verwesendes Fleisch um die Nägel herum zu lösen begann, hat Kaleb sie an ihren Kreuzen festgebunden.
Durch ihre Tränen hindurch richtet Maria den Blick auf die ihr zugewandten leeren Augenhöhlen, die aufgerissenen Gesichter und die geplatzten Lippen, die sich im Todeskampf in die Mundhöhle zurückgezogen haben. Wie lange schon mögen die vier jungen Frauen dort über der Leere hängen? Wie viele Stunden mögen sie ihren Leib angespannt und entlastet haben, im Versuch, sich dem wütenden Biss der Nägel zu entziehen? Wie viele Tage mögen sie im Gestank dieses Massengrabs gelitten haben, bis der Tod sie erlöst hat?
Von der Verzweiflung noch mehr als von ihren Schmerzen gequält, versucht Maria die Luft anzuhalten, um rascher zu sterben. Das gelingt ihr einige Sekunden lang, doch dann zieht der Druck, der ihre Lunge bläht, die Muskeln erneut zusammen und löst eine weitere Welle des Schmerzes aus. Schluchzend gibt sie den Versuch auf. Dann hebt sie den Blick. Durch ihre Tränen sieht sie Kaleb. Er steht am Fuß des Kreuzes, mustert sie aufmerksam und lässt sich keine ihrer Regungen entgehen. Die bemerkenswerte Energie, mit der sie sich bemüht, das unausweichliche Ende hinauszuschieben, scheint ihn zu beunruhigen. Rachels Klagelaute sind erstorben. Ihr Kopf ist auf ihre Hände gesunken. Sie ist tot.
32
Mit ausgebreiteten Armen, die Handflächen nach oben gekehrt, als flehe er zum Himmel, steht Kaleb regungslos vor dem Altar. Maria versucht, mit ihren Blicken die Finsternis in seiner Kapuze zu durchdringen. Sie sieht nur das kalte Leuchten seiner Augen – wie zwei Glasstücke, die im Licht der Kerzen aufblitzen.
Unter dem Ledermantel, der jetzt offen steht, trägt er eine schwarze Mönchskutte. Auf seiner Brust leuchtet in der Dunkelheit ein schweres Silbermedaillon. Ein fünfzackiger Stern umgibt einen Dämon mit einem Bocksschädel: das Zeichen der Teufelsanbeter.
Maria sieht genau hin. Die Ärmel der Kutte sind ein Stück nach oben geglitten. Kalebs mit Holzsplittern gespickte Hände sind lang, seine Fingernägel schwarz. Narben bedecken die Unterarme vom Handgelenk bis zu den Ellbogen. Es sieht aus, als habe man sie aufgeritzt und dann die Vertiefungen mit einer Art Tinte gefüllt. Das Ganze ergibt ein Muster: Flammen um ein blutrotes Kreuz. Nahe der Armbeuge, da, wo sich die Spitzen der Flammen vereinigen und das Kreuz umgeben, bilden sie ein Wort, das Maria nicht lesen kann. Erneut fängt sie einen Blick aus Kalebs Augen auf. Ihr ist klar, dass sie sterben wird. Von einem solchen Mörder darf man kein Mitgefühl erwarten. So schließt sie die Augen und zerrt bewusst an ihren Wunden im Versuch, den Tod zu beschleunigen.
»Maria? Hörst du … Maria?«
Als Bannermans abgehackte Stimme von fern an ihr Ohr dringt, fährt sie so sehr zusammen, dass ihr die Bewegung einen Schmerzenslaut entlockt. Bannerman. Sie sieht zu ihren Kleidungsstücken hin, die der Mörder auf den Boden geworfen hat. Dass sie Bannermans Stimme hören kann, zeigt, dass das Funkgerät noch eingeschaltet ist und weiterhin funktioniert. Sie konzentriert sich auf das, was er sagt. »Maria … BI … holen dich da raus.«
Dann Rauschen und Knistern. Seine Stimme wird schwächer, entfernt sich. Erneut Stille. Maria schließt die Augen. Was hast du da gesagt, Bannerman? Großer Gott, was hast du gesagt?
Sie ringt nach Luft. Ihre Kräfte schwinden. Sie muss Zeit gewinnen. Sie sucht nach Worten, wägt
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