Das Evangelium nach Satan
Die letzten Worte des Sheriffs treiben ihr Tränen des Glücks in die Augen.
Erneut hallt Kalebs Stimme in der Dunkelheit. Man könnte glauben, dass er nach Worten sucht, dass er damit spielt, sich daran erfreut. Nein … aus ihm sprechen andere Stimmen. Es sind Dutzende. Sie kommen näher wie das Gebell einer fernen Hundemeute. Großer Gott, er spricht, ohne dass sich seine Lippen bewegen.
Die Stimmen vereinigen sich und brechen hervor. Sie kommen aus Kalebs offenem Maul, hüllen Maria ein wie ein peitschender Regenguss, in dem sie untergeht und ertrinkt. Sie sind so laut, dass es ihr vorkommt, als brüllten tausend Kehlen aus Kaleb heraus. Sie unterscheidet Schreie der Verzweiflung, die an der Oberfläche dieser Kakofonie treiben. Hilferufe und hassvoll hervorgestoßene Wortfetzen: Sie stammen von seinen zahllosen Opfern – Frauen, Kindern und Greisen. Und dann, mit einem Mal, hallt seine Stimme wie ein Trompetenstoß in dem heillosen Durcheinander: »Ich bin die Geißel. Ich bin die Waage und das Gewicht, mit dem die Seelen gewogen werden. Ich bin der Meister der Bauhütte der Schöpfung. Der Hebel, der die Welt aus den Angeln hebt. Ich bin der Andere, das Gegenstück von allem, das Nichts und die Leere, der Ritter aus der Tiefe. Ich bin der Wanderer.«
∗ ∗ ∗
Das Geheul hört auf, der Sturm der Stimmen schwillt ab. Die Kerzen knistern. Die Fliegen summen. Kaleb hat die Augen geschlossen. Er befindet sich im Zustand der Trance. Eine mit satanistischen Inschriften bedeckte stählerne Klinge leuchtet schwach in seiner Hand. Mit ihr wird er gleich den Ritus vollziehen. Marias Zähne klappern unaufhörlich. Als sie im Hintergrund der Krypta dunkle Gestalten zu erkennen scheint, hört das Zähneklappern einen Augenblick lang auf.
Angestrengt kneift sie die Augen zusammen und erkennt rund drei Dutzend schattenhafte Umrisse, die sich inmitten der Leichen bewegen. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf Kaleb und zittert vor Entsetzen, als sie merkt, dass er sie ansieht. Der Abglanz eines Lächelns liegt in seinen Augen. Während die Laservisiere leise zischen, begreift Maria. Kaleb weiß, dass sie da sind. Er hat sie von dem Augenblick an gewittert, als sie die Treppe herabgekommen sind. Nein, es ist noch schlimmer: Er hat von Anfang an gewusst, dass sie kommen würden. Er hat es darauf angelegt, es organisiert, hat alles geplant. Er ist ein Manipulator. Er hat gerade so viele Spuren hinterlassen, dass er Maria in sein Netz locken konnte. Als er Rachel entführte, wusste er, dass sie die Verfolgung aufnehmen würde. Er kennt sie, er weiß, dass sie Dinge sieht, die anderen verborgen bleiben.
Jetzt sind die roten Laserpunkte auf Kalebs Kutte sichtbar. Wie beim Übungsschießen hat jeder der Scharfschützen ein lebenswichtiges Organ anvisiert und seinen Atem verlangsamt. Sie tragen Helme mit Wärmebildkameras und Nachtsichtgeräten. Sie können ihn unmöglich verfehlen. Sie werden ihn bei der ersten Bewegung, die er macht, in Stücke schießen. Eine Stimme bricht aus der Dunkelheit hervor: »FBI! Keine Bewegung!«
Maria hält den Blick auf Kaleb gerichtet. Er hat es so gewollt, dass er hier stirbt. Er muss jetzt sterben. Das gehört zu seinem Plan. Maria versucht, die Scharfschützen, die ihn anvisieren, darauf hinzuweisen, aber kein Laut dringt aus ihrer Kehle. Sie ist wie zugeschnürt. Jetzt hebt der Mörder langsam den Arm, sodass die Klinge im Schein der Kerzen aufblitzt.
Auf diese Bewegung haben die Scharfschützen nur gewartet. Sie liefert die Rechtfertigung, den Schweinehund niederzuschießen, der es gewagt hat, eine der Ihren an ein Kreuz zu nageln. Finger krümmen sich um den Abzug. Kaleb scheint den Mund zu öffnen. Er sagt Maria auf Wiedersehen … Maria schüttelt den Kopf, um die Kollegen an ihrem Vorhaben zu hindern. Zu spät. Mehrere Salven hallen durch die Krypta. Wie in Zeitlupe sieht sie das Mündungsfeuer, sieht, wie Kalebs Leib beim Aufprall jeder einzelnen Kugel zuckt, sieht die roten Flecken auf seiner Kutte. Seine Arme sind wieder wie zum Gebet erhoben. Er sieht zu Maria hin, lächelt ihr zu. Dann lassen seine Finger den Dolch los, der zu Boden klirrt. Bei einer letzten Salve beugt er sich vor und stürzt auf die Knie. Sein Kopf sinkt, das Kinn liegt auf seiner Brust, die Arme fallen auf seine Schenkel. Er hat seinen Willen durchgesetzt, hat die Oberhand behalten.
Der dröhnende Lärm der Schüsse ist verhallt. Maria hat die Augen geschlossen. Von fern dringt Bannermans Stimme zu
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