Das Evangelium nach Satan
ihr. Sie hört, wie die FBI-Männer Kaleb aus nächster Entfernung noch einige Kugeln in Schädel und Genick jagen. Dann schwindet ihr Bewusstsein. Sie spürt nicht einmal mehr die Nägel in ihren Wunden. Einen Augenblick lang klammert sie sich an die Reste der Wirklichkeit, die noch zu ihr durchdringen, bevor sie alles loslässt und in der Finsternis versinkt.
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TEIL DREI
1
Im Liberty Hall Hospital von Boston, acht Tage später
Special Agent Maria Parks zittert im eisigen Strom der Klimaanlage, während sie die mit Formalin und Desinfektionsmitteln erfüllte Luft der Leichenkammer im Liberty Hall Hospital von Boston in sich aufnimmt. Die aus Kühl-, Sektions-und Obduktionsräumen bestehende Anlage beansprucht die gesamten zweitausend Quadratmeter des Untergeschosses. Die meisten Leichen aus Boston und Umgebung finden ihren Weg dorthin: Selbstmörder, Unfallopfer und ungeklärte Todesfälle, bei denen der Generalstaatsanwalt des Bundesstaats Massachusetts eine Autopsie angeordnet hat.
Die letzten Räume, es sind die größten und hellsten, sind dem Gerichtsmedizinischen Dienst vorbehalten. Dort haben ausschließlich Mitarbeiter dieser Abteilung Zutritt. Leichen werden in schwarzen oder grauen Gummihüllen eingeliefert: schwarz für Mörder, grau für deren Opfer.
In diesen riesigen weiß gekachelten Sälen mit ihren Betonwänden sägt ein ganzes Heer von Gerichtsmedizinern, denen nichts Menschliches fremd ist, auf der Suche nach Beweisen für Verbrechen Brustkörbe auf und seziert Unterleiber. Sie suchen nach den typischen blauen Rändern, die Arsen auf Leberlappen hinterlässt, den schwärzlichen Gerinnseln, die ein heftiger Schlag an der Milz hervorruft, untersuchen von großkalibrigen Geschossen durchschlagene Lungenflügel und Herzen wie auch beim Erdrosseln verschobene Halswirbel. Diese Sichtprüfung ergänzen sie durch eine genaue Untersuchung der Mundhöhle und der anderen Körperöffnungen, gewinnen die DNS aus Speichel, Blut, einem Haar oder aus Spermaspuren eines Vergewaltigers.
Über dieser Ansammlung von Leichen in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls erheben sich die vierzehn Stockwerke des Liberty Hall Hospitals mit ihrer Fassade aus Stahl und Glas. Dort werden Kranke und Sterbende in elf verschiedenen medizinischen Abteilungen und einer Intensivstation betreut. Sie befindet sich im obersten Stockwerk, und eben dort hatten mehrere Ärzte einander abgelöst, um Marias Wunden zu säubern und zu versorgen.
Volle sieben Tage und Nächte hatte sie dort verbracht, von Schwestern betreut, die ihre Verbände erneuerten und ihrem Körper über den Tropf Antibiotika zuführten. Während dieser Zeit hatte sie tagsüber in der angenehmen Wärme ihres Zimmers geschlafen, nachts aber hatte sie sich inmitten der Finsternis der Krypta am Kreuz wiedergefunden. Sieben Tage lang hatte sie, umgeben von den vertrauten Geräuschen des EKG-Schreibers und der über die Gänge rollenden Wäschewagen, Kräfte gesammelt und sieben Nächte lang sich am Kreuz gewunden und unter den Schmerzen aufgeschrien, die ihr die Nägel zufügten.
Sie war nicht bereit gewesen, die Neuroleptika einzunehmen, die man ihr verschrieben hatte, um ihre Visionen abzuschwächen. Ihrer Ansicht nach gab es nichts Schlimmeres als einen von solchen Medikamenten ausgelösten flash, eine in Zeitlupe ablaufende Vision, in der jede Einzelheit überdeutlich wird, ein Albtraum, in dem sich das Leiden endlos dehnt.
Am frühen Morgen des achten Tages war sie ausgeruht und ausgeglichen aufgewacht. Die Vision war vorüber, geblieben war lediglich die Erinnerung an das Leuchten von Kalebs Augen in der dunklen Krypta. Sie landete bei den vielen anderen auf dem Schutthaufen ihrer Erinnerung. Da ihn das Kommando des FBI getötet hatte, würden im Laufe der Zeit die Bilder, die mit seinen Morden zusammenhingen, zweifellos verblassen.
Immer vorausgesetzt, Kaleb ist tot.
Maria versucht, diesen Gedanken zu verdrängen. Das ist die leise Stimme in ihrem Kopf, die sich immer wieder meldet, wenn sie Angst hat. Die Stimme des Kindes Maria, das mit seinen Puppen spricht.
2
Rom, im Vatikan, sechs Uhr
Kardinal Oscar Camano liebt den Augenblick, in dem der rötliche Saum des frühen Morgens am Himmel das tiefe Blau der Nacht allmählich auflöst. Tag für Tag lässt er seinen Fahrer, sobald sie das Kolosseum hinter sich haben, wo einst so viele Christen ihr Blut zum höheren Ruhme Gottes vergossen haben, an der Piazza della Chiesa Nuova
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