Das Evangelium nach Satan
anhalten. Dort steigt er aus und geht allein durch die Gassen Roms der Engelsbrücke entgegen.
Er könnte sich auch, wie andere Eminenzen, die jünger sind als er, bis zum Petersplatz fahren lassen oder wenigstens einfach geradeaus in Richtung auf den Tiber und dann über den Borgo Santo Spirito gehen. Aber nein, bei Regen und Wind macht er trotz seiner schmerzenden Kniearthrose jedes Mal den Umweg über die Engelsbrücke. Dann biegt er nach links ab und geht durch die Via della Conciliazione zum Vatikan. Er betrachtet diesen einsam zurückgelegten Weg als eine Art Pilgerschaft. Sie dient ihm als innere Einstimmung auf den anstrengenden Arbeitstag, der vor ihm liegt. Als Mann an der Spitze des geheimen Ordens der Legion Christi ist Kardinal Oscar Camano der gefürchtete Vorsitzende der Wunder-Kongregation, eines der mächtigsten Dikasterien im Vatikan. So groß ist seine Macht, dass nicht einmal der Kardinal Staatssekretär, immerhin sozusagen der Premierminister der römischen Kirche, je einen Blick in Camanos Akten hat werfen können.
Ihm ist klar, dass andere, nicht minder mächtige Kardinäle, dem Teufel ihre Seele verkauft hätten, um Zugang zu dem Archiv zu bekommen, das sich mit allerlei Wundern beschäftigte. Diesen von Ehrgeiz zerfressenen Greisen war bewusst: Gerade das undurchdringliche Geheimnis, das diesen Teil der Aufgabe der Wunder-Kongregation umgab, machte sie zu einem der gefürchtetsten Organe des Vatikans.
Wer in ihr seine Gelübde ablegen wollte, musste zuvor dreizehn Jahre in den Seminaren der Legion Christi studieren. Anschließend siebte der Orden die jahrgangsbesten Absolventen aus und schickte sie zur Promotion an erstklassige Universitäten. Diese lange und mühevolle Ausbildung sorgte dafür, dass Camano ausschließlich Spezialisten zur Verfügung hatte, die mit Leib und Seele danach trachteten, etwas, das als Wunder galt, peinlichst genau zu untersuchen und Beweise für die Existenz Gottes zu finden. Das war letztlich die Hauptaufgabe der Kongregation: sichtbare und unsichtbare Zeichen und Hinweise so gründlich wie nur irgend möglich zu untersuchen.
Sobald von irgendwoher ein Wunder oder eine Manifestation des Teufels gemeldet wurde, schickte Camano seine Spezialisten aus. Sie hatten die Aufgabe festzustellen, ob es sich wirklich um übernatürliche Erscheinungen handelte und womöglich Gefahr bestand, dass sie durch die Dogmen gelehrte Wahrheiten in Frage stellten. Immerhin war es ohne Weiteres vorstellbar, dass ein Wunder den übergeordneten Interessen der römisch-katholischen Kirche zuwiderlief. Auf jeden Fall gehörte es zu Camanos Aufgabe, unauffällig dafür zu sorgen, dass keine solche Erscheinung dem widersprach, was die Kirche lehrte, und so musste er jederzeit bereit sein, im Keim zu ersticken, was den Vatikan schwächen konnte. Nachdem seine promovierten Spezialisten einer solchen Sache nachgegangen waren, erstatteten sie der Legion Christi Bericht. Solche Berichte wurden aus der ganzen Welt durch die am stärksten abgeschirmten Kanäle der Kirche nach Rom geleitet. Dort gaben Camanos Mitarbeiter die Daten in ihre Rechner ein und versuchten festzustellen, ob bereits an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit eine vergleichbare Erscheinung aufgetreten war. In der Mehrzahl der Fälle blieb diese Nachforschung ergebnislos, woraufhin man die Sache weiter im Auge behielt und zum nächsten Wunder überging.
Mitunter aber meldete der Computer, dass sich ein Wunder oder ein satanisches Wirken seit Jahrhunderten in regelmäßigen Abständen und in gänzlich gleicher Weise wiederholte. In der Annahme, dass sich Gott so möglicherweise bei den Menschen in Erinnerung bringen wolle, und überzeugt, dass sich damit die von der Kirche vertretene Lehrmeinung festigen lasse, trat in solchen Fällen die Legion Christi auf den Plan. Nachdem der Papst die Akte mit seinem Siegel verschlossen und damit für jeden außer ihn selbst oder seinem Nachfolger unzugänglich gemacht hatte, wurde sie in Verwahrung genommen und in einem geheimen Archiv deponiert.
Es war Camanos Bestreben, diesen Vorgang möglichst zu beschleunigen, damit nicht andere Kongregationen – oder, noch schlimmer, Journalisten – ihre Nase in die Sache stecken konnten. Daher ließ er die Unterlagen über solche Erscheinungen normalerweise bereits vom Papst siegeln und unter Verschluss nehmen, sobald die Wunder-Kongregation ihre ersten Ermittlungen abgeschlossen hatte. Sollte sich herausstellen, dass eine Akte letztlich
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