Das Evangelium nach Satan
fällt ihr auf, dass er im Begriff steht, sichtlich zu altern. Jetzt fängst du schon wieder an zu spinnen, Maria. Aber es ist tatsächlich so … Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass seine Leiche schneller verwest ist als die anderen, doch bei genauem Hinsehen fällt auf, dass die Haut welkt und austrocknet, wie schlecht gepflegtes Leder.
Sie betrachtet Kalebs Hände. Sie kennt sie genau, denn immerhin waren sie ihr sehr nahe, als er Maria ans Kreuz geschlagen hat. Seine Fingernägel scheinen gewachsen zu sein, wie bei Leichen, deren Sarg man Monate nach der Beerdigung noch einmal öffnet. Zitternd beißt sie sich auf die Unterlippe: Sie ist sicher, dass sich seine Brust bewegt hat, wenn auch kaum wahrnehmbar. Dann regt sich auch seine Hand.
»Fehlt dir was, Parks?«
Sie zuckt zusammen, als sie spürt, wie Bannerman seine Hand auf ihre Schulter legt. Sie öffnet die Augen wieder. Die Hand des Toten ist auf den Metalltisch zurückgefallen. Seine Brust scheint reglos.
Großer Gott im Himmel, Kaleb ist gar nicht tot …
4
In den Gängen der päpstlichen Residenz schüttelt Kardinal Camano die schlaffe Hand, die ihm Monsignore Dominici, Privatsekretär des Papstes und zugleich dessen Beichtvater, hinhält. Das tut er so kräftig, dass Dominici schmerzhaft das Gesicht verzieht. Weder der Papst noch einer der allmächtigen Kurienkardinäle ist der meistgehasste Mann im Vatikan, sondern dieser aufgedunsene Zwerg mit den gelben Augen, dem der unumschränkte Herrscher über die römische Kirche seine innersten Geheimnisse anvertraut.
Camano vermindert den Druck seiner Hand und fragt mit kaltem Lächeln: »Und wie geht es Seiner Heiligkeit heute, Monsignore?«
»Er ist mit Arbeit überhäuft, Exzellenz. Daher bitte ich Sie, sich kurz zu fassen. Denken Sie daran, dass er ein kranker und erschöpfter alter Mann ist. Da ich um seine Gesundheit fürchte, werde ich ihm nahelegen, einen Teil seiner Arbeitslast auf andere Schultern zu übertragen.«
»Jetzt, mitten im Konzil und angesichts unserer gegenwärtigen Sorgen? Da könnte man ebenso gut einem Kapitän auf hoher See nahelegen, zu Bett zu gehen, wenn sein Schiff leckgeschlagen ist und voll Wasser läuft.«
»Sie scheinen nicht zu begreifen, Eminenz. Der Heilige Vater ist alt und nicht mehr so belastbar wie zu Beginn seines Pontifikats.«
Camano unterdrückt ein gelangweiltes Gähnen. »Lassen Sie es gut sein, Dominici. Einem Papst geht es nicht anders als einem alten Auto: Man nimmt den Wagen so hart ran, wie man kann, und wenn er den Geist aufgibt, steigt man auf einen neuen um. Beschränken Sie sich also ruhig darauf, die Seele des Heiligen Vaters so zu erleichtern, wie Sie das für richtig halten, und überlassen Sie den Rest Gott und den Kardinälen der Kurie.«
Er lässt den Mann stehen und grüßt mit einem Nicken die Schweizergardisten, die mit gekreuzten Hellebarden den Eingang zu den päpstlichen Gemächern bewachen. Sie geben ihm sogleich den Weg frei. Hier umgeben ihn Stille und Dämmerlicht. Die Sonne, die über dem Petersplatz aufgegangen ist, schickt ihr blutrotes Licht durch die schweren Samtvorhänge. In den Anblick des Sonnenaufgangs versunken, der die Kuppeln des Vatikans hell hervortreten lässt, steht der Papst am Fenster. In einem Punkt zumindest scheint Dominici recht zu haben: Es hat ganz den Anschein, als sei der Heilige Vater am Ende seiner Kräfte.
Das Parkett knarrt, und Camano bleibt stehen. Eine leichte Bewegung des Papstes zeigt an, dass er das Eintreten des Kardinals möglicherweise erst jetzt bemerkt hat. Camano sieht, wie er tief Luft holt, bevor er mit heiserer Stimme fragt:
»Nun, mein lieber Oscar, haben Sie dem blonden Tabak aus Virginia immer noch nicht abgeschworen?«
»Zu schade, dass das nicht als Sünde gilt, Eure Heiligkeit.«
Schweigen. Der Papst wendet sich langsam um. Sein faltiges Gesicht hat einen so ernsten Ausdruck, dass es Camano vorkommt, als sei der Mann über Nacht zehn Jahre älter geworden.
»Welche Neuigkeiten bringen Sie mir heute?«
»Sagen Sie mir zuerst, wie es Ihnen geht.«
Der Papst stößt einen tiefen Seufzer aus.
»Was soll ich schon sagen, außer dass ich alt bin und bald sterben muss? Dann werde ich endlich erfahren, ob es Gott gibt.«
»Wie könntet Ihr daran zweifeln, Eure Heiligkeit?«
»Das fällt mir ebenso leicht, wie daran zu glauben. Immerhin ist Gott das einzige Wesen, das nicht zu existieren braucht, um herrschen zu können.«
»Hat das der Kirchenvater Augustinus
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