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Das Evangelium nach Satan

Das Evangelium nach Satan

Titel: Das Evangelium nach Satan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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das immer machen. Sollte sich zeigen, dass dein Kerl da tatsächlich älter wird, lade ich dich zu einem erstklassigen Abendessen in einem sauteuren Lokal ein und versprech dir jetzt schon, dass ich nicht versuchen werde, dich zu verführen, nachdem ich dich nach Hause gebracht habe.« Zu Stanton gewandt fragt er: »He, sag mal, ist es dir recht, wenn wir heute ein Gespenst obduzieren?«
    »Na hör mal, eine Leiche, die einem unter den Händen einfach so an Altersschwäche wegstirbt – wie sollte mir das recht sein?«
    Dann sagt Stanton mit ernster Stimme, nachdem er die Hand vom Mikrofon genommen hat, damit die Sprachsteuerung wieder einsetzen kann: »Ende der radiologischen Untersuchung.«
    Jetzt suchen die beiden Mediziner mit einer Leuchtlupe systematisch Kalebs Haut ab. Mancuzo sagt: »Die Epidermis des Toten weist die für einen Stadt-oder Landstreicher typischen Merkmale auf: Krätze, Schorf, Eiterflechte, deutliche Narben von Windpocken und Pocken, außerdem zahlreiche mechanische Verletzungen. Besonders auffällig sind Narben auf den Unterarmen, höchstwahrscheinlich rituellen Ursprungs: mit unlöschbarer Tinte gefüllte lange und tiefe Einschnitte in der Haut. Das Muster zeigt ein rotes Kreuz, das sich inmitten eines Flammenmeers erhebt. Kurz vor der Armbeuge, wo sich die Flammen zu einem Kreis um das Kreuz vereinigen, bilden sie ein Wort. Wohl eher eine Abkürzung. I … N … R … I.«
    »Das ist ein titulus .«
    »Was für ein Ding?«
    Als Mancuzo zu Maria hinsieht, kommt es ihm vor, als hätten sich ihre Augen geweitet. Man könnte glauben, die Leiche hypnotisiere sie. Jedenfalls sieht sie unablässig zu ihr hin. »Ein hölzernes Täfelchen«, sagt sie, und bei jedem Wort, das aus ihrem Mund kommt, entsteht in der eiskalten Luft ein kleiner Nebelkreis. »Man hat sie in der Antike auf den Märkten von Rom am Arm von Sklaven angebracht, aber auch über dem Kopf Gekreuzigter, damit das Volk wusste, was jene verbrochen hatten.«
    »Und das INRI hier?«
    »Das ist der titulus, den Pontius Pilatus in lateinischer, griechischer und hebräischer Sprache über dem Kopf Christi hat anbringen lassen, damit alle es lesen konnten. Es ist die Abkürzung der lateinischen Fassung und bedeutet ›Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum‹ : Jesus von Nazareth, der Juden König. Die beiden ›I‹ stehen da, weil es im lateinischen Alphabet den Buchstaben ›J‹ nicht gab.«
    »Woher weißt du das so genau – etwa aus dem Religionsunterricht?«
    »Nein, aber ich habe Religionsgeschichte studiert.«
    »Und wofür stehen die Flammen um das blutrote Kreuz?«
    »Für das Höllenfeuer.«
    »Wie bitte?«
    »Auf einem aramäischen Grab bedeutete eine solche Inschrift, dass der Tote darin verdammt war und man es unter keinen Umständen öffnen durfte, damit seine Seele nicht entweichen und der Welt Schaden zufügen konnte.«
    »Wenn ich dich richtig verstanden habe, sagen die Narben auf der Leiche aus …«
    »… dass Jesus Christus in der Hölle ist.«

8
    »Was bedeutet das, Eure Heiligkeit?«
    Der Papst ist in Gedanken versunken. Man hört nur das Ticken der Uhr. Dann fängt er an, so leise zu sprechen, dass sich Camano vorbeugen muss, um ihn zu verstehen.
    »Im Satansevangelium heißt es, Jünger, die Zeugen der Lossagung Christi von Gott geworden waren, hätten die mit der Bewachung des Kreuzes beauftragten römischen Legionare erschlagen, anschließend den Leichnam des Janus in den Norden Galiläas gebracht und dort in einer Höhle beigesetzt. Dazu, heißt es, hätten sie eine Aussparung im Gestein der Höhle hergestellt, in die sie sich geflüchtet hatten, und den Leichnam des Janus dort eingemauert. Auf eine der Wände dieses Grabes sollen sie ein von Flammen umgebenes blutrotes Kreuz gemalt und darüber die heilige Abkürzung INRI geschrieben haben.«
    »Wieso haben sie Christi Kreuzestitulus verwendet, wenn ihnen klar war, dass sie Janus beisetzten?«
    »Der Absicht der Römer nach bedeutete ›Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum‹ bekanntlich ›Jesus von Nazareth, der Juden König‹. Für die Jünger des Gottesleugners aber hatte der Titulus den Sinn ›Ianus Nazarenus Rex Infernorum, also ›Janus aus Nazareth, der König der Hölle‹.«
    Schwindel ergreift Camano, und er hat den Eindruck, als treibe die Stimme des Papstes körperlos irgendwo im Raum umher.
    »In ebendiesen Höhlen sollen die Janusjünger ihr Evangelium verfasst haben, um von dem Sinneswandel zu berichten, dessen Zeugen sie unter dem Kreuz auf Golgatha

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