Das Evangelium nach Satan
geworden waren. Vor der Verfolgung durch die Römer sind sie nach Kleinasien ausgewichen und haben in einem fernen Winkel der Berge Kappadokiens Zuflucht in einem Höhlenkloster gesucht. Von dort aus haben sie zur Verbreitung ihrer ketzerischen Lehre Missionare in alle Himmelsrichtungen ausgesandt. Irgendwann später ist die Sekte untergegangen, zweifellos als Opfer einer Epidemie.«
»Und das Evangelium?«
Der Papst erhebt sich mühsam aus seinem Sessel und geht zu den schweren Fenstervorhängen hinüber. Er schiebt einen von ihnen beiseite und sieht eine Weile auf das Gewimmel der Touristen, die den Petersplatz bevölkern.
»Als die Hunnen im Jahre 452 Rom bedrohten, hat sich Papst Leo der Große auf den Bergen über Mantua mit deren König Attila getroffen und ihm als Gegenleistung für seinen Abzug zwölf Wagen voll Gold angeboten. Attila hat angenommen und dem Papst als Zeichen seiner Hochachtung eine große Anzahl gebundener Handschriften und loser Pergamente zurückgegeben, die seine Reiter in den Klöstern Kleinasiens geraubt hatten. Mit diesem sonderbaren Schatz nach Rom zurückgekehrt, hat sich Leo in seinen Gemächern eingeschlossen und ist erst nach einer Woche bleich und abgemagert wieder daraus hervorgekommen. Er war auf ein altes Buch gestoßen, dessen Ledereinband einen fünfzackigen Stern um einen Bocksschädel herum zeigte und dessen Inhalt abstoßend gewesen sein soll. Inzwischen wissen wir, dass es sich dabei um das Satansevangelium gehandelt hat, das die Hunnen wohl in Kappadokien gefunden hatten, wo einst die Angehörigen jener Sekte gelebt hatten. Das Buch war so voller Ungeheuerlichkeiten, dass Papst Leo, von Entsetzen ergriffen, entschied, es müsse dafür Sorge getragen werden, dass möglichst niemand es künftig je wieder zu Gesicht bekam.«
Erneut trat Schweigen ein.
»Daraufhin hat er zwei äußerst geheime Orden gegründet, die noch heute existieren. Das war zum einen der Orden der Archiv-Ritter, der in der neueren Fassung Orden der Archivare heißt. Ihn betraute er mit der Aufgabe, die Länder des Orients wie des Okzidents auf der Suche nach weiteren Pergamenten und Schriften dieser Art zu durchstreifen und dafür zu sorgen, dass sie nicht in falsche Hände gerieten. Zum anderen rief er den sozusagen unsichtbaren Orden der Weltfernen Schwestern ins Leben. Sie mussten Klöster in abgelegenen Gebirgsregionen beziehen, dort Werke von der beschriebenen Art aufbewahren und unter größter Geheimhaltung studieren. Das Satansevangelium selbst hat er in die Mitte der großen syrischen Wüste bringen lassen, um es auf diese Weise vor den Barbaren zu bewahren. Als einige Jahre darauf die mit dieser Aufgabe betrauten Archiv-Ritter derselben sonderbaren Krankheit zum Opfer fielen wie zuvor die Janusjünger, geriet das Satansevangelium erneut in Vergessenheit.«
Mit schwerfälligen Schritten kehrt der Papst zu seinem Sessel zurück. Als er weiterspricht, hat der Kardinal den Eindruck, dass der Heilige Vater am Ende seiner Kräfte ist.
»Siebenhundert Jahre hindurch haben Archiv-Ritter unermüdlich alle Länder durchstreift, um die Wissensschätze der Menschheit vor den gegen die Christenheit anbrandenden Barbarenhorden zu bewahren. Sie haben Papyri aus Feuersbrünsten gerettet, aus Klosterruinen gebundene Handschriften von unermesslichem Wert geborgen, aber auch Pergamente in Sicherheit gebracht, die sich in zerstörten Städten hier und da verstreut fanden. All das hat man in tiefer Nacht zu den Wehrklöstern hoch in den Bergen geschafft, wo es sich die Weltfernen Schwestern zur Aufgabe machten, zerfetzte Einbände instand zu setzen und im Licht von Kerzen kostbare beschädigte Illuminationen zu kopieren, bevor sie all das den in der Tiefe ihrer Festungen angelegten Bibliotheken anvertrauten.« Nach einer Pause nimmt er den Faden wieder auf: »Während all dieser Zeit schlummerte das Satansevangelium., das dem Gedächtnis der Menschen entschwunden war, unter dem heißen Sand der großen syrischen Wüste. Wiederentdeckt und nach Ackon gebracht hat es im Jahre 1104 die Vorhut des ersten Kreuzzugs. Dort haben es die christlichen Streiter in einem Versteck in der Johannes-Festung verborgen gehalten. Bedauerlicherweise ist Akkon dem Feind in die Hände gefallen, und so musste man warten, bis beim dritten Kreuzzug die Standarte Christi unter dem englischen König Richard Löwenherz erneut über den Mauern der Stadt wehte. Das war im Jahre 1191. Als Akkon nach einer Belagerung von etwa drei Monaten
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