Das Evangelium nach Satan
sei zurückgekehrt und man müsse ihn möglichst bald erneut kreuzigen, um der übrigen Welt die frohe Botschaft mitzuteilen. Da Christus nach Ansicht des guten Merry in der Gemeinschaft der Homosexuellen der amerikanischen Westküste aufgetaucht war, hatte er zwischen San Francisco und den Great Plains vierzehn Strichjungen umgebracht. Dabei war er immer auf dieselbe Weise vorgegangen: Er hatte sein Opfer auf der Straße oder in einem Szenelokal angesprochen, ihm K.-o.-Tropfen in ein Getränk getan, es in einen einsamen Winkel geschleppt und dort gekreuzigt, wobei er unter fortwährenden Gebeten zugesehen hatte, wie es sich im Todeskampf wand.
Am 17. November 1972 war es in der Nähe von Boise in Idaho zur vierzehnten und letzten Kreuzigung gekommen, denn an jenem Tag wurde Parkus Merry sozusagen mit dem Hammer in der Hand festgenommen. Anschließend verbrachte er elf Jahre in der Todeszelle, bis man ihn eines Tages im Morgengrauen auf dem elektrischen Stuhl festschnallte.
11
Auf dem Rücksitz eines alten Taxis, dessen Aufhängung laute Quietschgeräusche von sich gibt, bemüht sich Hochwürden Carzo, nicht einzuschlafen. Seine Schläfen hämmern, als werde ihm der Kopf platzen, und er hat einen metallischen Geschmack im Mund. So war das immer nach einer Begegnung mit dem Dämon. Als wenn sich der Körper in einen Hochofen verwandelt hätte, der mit einem Schlag alle Reserven verbrennt und die Seele entleert. Zurück bleibt außer entsetzlichem Hunger und Durst der Eindruck, inmitten einer riesigen Wüste allein zu sein – allein und schutzlos.
Durch die schmutzige Türscheibe, die sich nicht mehr herunterkurbeln lässt, sieht Carzo angespannt auf die Fahrzeuge, die über die Avenida Constantino Nery in Richtung Flughafen fahren. Seit das Taxi das Zentrum von Manaus hinter sich gelassen hat, sieht er statt der einst schmucken, jetzt aber verfallenen Häuser im Kolonialstil sich weithin erstreckende Elendsquartiere, Wellblechhütten, so dicht aneinander gedrängt, dass sie sich gegenseitig stützen. Hier gibt es weder Satellitenantennen noch Klimaanlagen, und auch keine Gardinen, ja, nicht einmal Fenster. Perlenschnurvorhänge ersetzen die Haustür und versetzt aufeinander gestapelte Paletten die Eingangstreppe. Auch Straßen gibt es auf diesen braunen und staubigen Flächen nicht. Ein schlammiger Abwasserkanal zieht sich zwischen den Tausenden Hütten hin, die an den Berghang geklebt scheinen. Dort spielen auf einem von rostigen Nägeln bedeckten Boden, über den Ratten huschen, barfüßige Kinder Fußball oder Räuber und Gendarm.
Der Exorzist kneift die Augen zusammen. Kaum erkennbar in einem Wald aus grellbunten Reklametafeln zeigt ein verblichenes Hinweisschild an, dass es bis zum Flughafen noch acht Kilometer sind. Hupend bahnt sich das Taxi einen Weg durch zerbeulte Pick-ups und knatternde alte Fiats, die schwarze Auspuffwolken ausstoßen.
Carzo lehnt sich an die Kopfstütze und nimmt die Gerüche um sich herum auf, darunter Erinnerungen an ungewaschene Geschlechtsteile und feuchte Schenkel. Taxifahrer von Manaus verschaffen sich einen Zusatzverdienst, indem sie ihr Auto nachts an die Prostituierten aus den Armutsvierteln vermieten, die einander auf dem Rücksitz ablösen. Die Hälfte der Einnahme geht an den Fahrer, der unbeeindruckt von dem Geschaukel quer über die Vordersitze gelegt schläft.
Mit geschlossenen Augen nimmt Carzo weitere Gerüche wahr, die aus sehr viel größerer Ferne kommen, leicht wie Erinnerungen. Den Duft von Rosen und Hibiskusblüten, aber auch den schöner Frauen. Eine von ihnen war Maria, eine junge Prostituierte mit großen braunen Augen, die ihren Körper für einige Stückchen Zucker sowie Medikamente hingegeben hat, deren Verfallsdatum überschritten war. Sie war ein Kind der Elendsquartiere, gab tagsüber in den Armutsvierteln Suppe aus und verband Kindern die Füße, die sie sich beim Barfußspielen verletzt hatten. Carzo zuckt zusammen, als das Bild dieser unbekannten jungen Frau vor ihm sichtbar wird. Er öffnet die Augen. Bisher hatte es ihm seine Fähigkeit, Gerüche zu identifizieren, noch nie ermöglicht, das Gesicht eines der Menschen zu sehen, zu denen sie gehörten oder gar dessen Vornamen daraus zu erkennen. Man könnte glauben, dass seine besondere Gabe im Begriff stand, sich zu verfeinern und zu verändern, oder genauer gesagt, dass etwas in ihn eingetreten war und dieses Etwas seine Fähigkeiten auf ihn übertragen hatte. Der Exorzist schüttelt den Kopf,
Weitere Kostenlose Bücher