Das Exil Der Königin: Roman
Der Schankwirt hing über seinem Tresen und sah aus, als hätte er seine eigenen Waren in unangemessenem Ausmaß genossen. Er hob den Kopf, als Han hereinkam, und beäugte mit gelblichen Augen seinen edlen Aufzug. »Das Mädel wartet oben auf Euch«, nuschelte er und versuchte zu zwinkern, brachte aber nur ein schwaches Blinzeln zustande. »Sie wollte nich’ hier unten warten.«
Köpfe drehten sich zu ihm um. Han sprang mit dem Buch in der Hand die Stufen hoch.
Rebecca sah auf, als er eintrat, und der Blick ihrer grünen Augen glitt rasch mehrmals an ihm auf und ab, ohne dass sie ein Wort sagte. Sie selbst trug einen langen, dunklen Wollrock und eine langärmlige weiße Bluse, wie eine von Jemsons strengsten Lehrerinnen.
»Du kommst spät, Alister«, sagte sie ohne irgendwelche Vorbemerkungen. Sie wirkte gereizt.
»Tut mir leid. Ich bin aufgehalten worden, weil …«
»Einige der wichtigsten Regeln der Etikette beziehen sich auf Pünktlichkeit«, überging Rebecca seine Entschuldigung. »Für geschäftliche Verabredungen gilt, dass man genau zur verabredeten Uhrzeit auftaucht oder ein paar Minuten früher. Bei gesellschaftlichen Treffen sollte man dagegen nie früher kommen. Man geht besser auf Nummer sicher, indem man ein paar Minuten zu spät kommt. Je wichtiger man ist, desto später kommt man.« Sie machte eine Pause. » Das hier ist eine geschäftliche Verabredung.«
Han blinzelte sie an. Bisher war es nie besonders wichtig für ihn gewesen, pünktlich zu sein. In Ragmarket hatte er sich seinen Zeitplan selbst gemacht. Er war der Streetlord gewesen, also hatten die Leute und Ereignisse auf ihn gewartet. Eine grobe Schätzung anhand des Sonnenstands und der Schatten hatten genügt. Sogar Jemson war nicht so streng, was seinen Unterricht betraf. Er war einfach glücklich, wenn man überhaupt auftauchte.
»Ich verstehe«, sagte er und wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich bitte um Entschuldigung. Ich werde versuchen, in Zukunft pünktlich zu sein.«
»Du wirst in Zukunft pünktlich sein«, betonte Rebecca, streckte ihre Nase in die Luft und schob ihre Haare zurück, »ansonsten war dies die letzte Unterrichtsstunde.«
Wo ist das Mädchen vom Dach?, hätte Han am liebsten gefragt. Die Rebecca, die auf dem Rücken neben mir lag, um sich das Feuerwerk anzusehen? Diejenige, die ich fast geküsst hätte?
Er versuchte, das Thema zu wechseln, und sah sich um. Da war ein kleiner Tisch, der für zwei Personen gedeckt war, mit Tellern, Schüsseln, Bechern, Servietten und einer Handvoll Gabeln, Löffel und Messer vor jedem Platz.
»Hast du was zum Essen bestellt?«, fragte er. »Ich dachte, wir hätten schon gegessen, bevor wir uns treffen.«
»Wir essen nicht richtig«, antwortete Rebecca. »Ich habe über den besten Weg nachgedacht, dich zu unterrichten, und beschlossen, dass wir etwas spielen. Heute werden wir uns über das Eintreffen und Weggehen unterhalten und über Tischmanieren.«
Über das Eintreffen und Weggehen?, dachte Han. Wie kompliziert kann das schon sein?
Sehr kompliziert, wie sich herausstellte. Blaublütige schienen dem Kommen und Gehen mehr Bedeutung zu schenken als dem, was dazwischen lag. Es gab alle möglichen Regeln dafür, wer in welcher Reihenfolge ankam und wer sich vor wem verbeugte oder einen Knicks machte und wann; wer zu wem was sagte; wer zuerst den Raum verlassen durfte und wie man den Raum verließ. Wenn man zum Beispiel eher aufbrach als eine wichtigere Person, zog man sich mit dem Rücken zur Tür zurück und verbeugte sich dabei, bis man gegen die Tür stieß.
Han ging nur dann rückwärts aus einem Zimmer, wenn die Person, die er zurückließ, ihm ansonsten höchstwahrscheinlich ein Messer in den Rücken gerammt hätte.
Es gab auch Regeln dafür, wie man herausfand, wer wichtiger war als man selbst – was nahezu alle waren.
Rebecca schlüpfte von einer Rolle in die andere; einmal spielte sie das Dienstmädchen, einmal die Gastgeberin, einmal einen Adeligen, einmal eine Adelige, einmal eine Person, die wichtiger war als er, einmal eine, die unwichtiger war.
»Du bist eine gute Schauspielerin«, stellte Han fest. »Du bist so gut wie die Leute, die ich im Palisade gesehen habe.« Das Palisade war ein Freilufttheater in Southbridge, wo man einen Stehplatz für ein Fünfpenny-Stück bekommen konnte. Oder sich umsonst reinschlich.
»Nun«, sagte Rebecca. »Das ist etwas, worin Blaublütige gut sind – im Schauspielern.«
Schließlich kamen sie zu den Tischmanieren. Es
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