Das Exil Der Königin: Roman
befreien, als sie von Gerard Montaigne gefangen genommen worden waren. Aber er präsentierte verschiedenen Leuten verschiedene Gesichter, und seine Bemühungen, sie am Leben zu halten, waren im Grunde vermutlich selbstsüchtig.
Raisa, die mit romantischen Geschichten aufgewachsen war, hätte vermutet, dass es unmöglich war, zwei Männer zugleich zu lieben; dass es nur eine wahre Liebe für jeden Menschen gab und es nur darauf ankam, sie zu finden.
Aber das stimmte nicht. Sie liebte Amon Byrne immer noch. Ihre Gefühle ihm gegenüber waren viel zu empfindsam, um sie genauer zu betrachten. Und sie liebte Han Alister, wenn sie überhaupt irgendetwas von Liebe verstand.
Würde sie ihn jemals wiedersehen, und wenn ja, war es möglich, eine Beziehung aufzubauen, die auf einer Lüge gründete?
Und was erwartete sie überhaupt, auf diesem heiklen Grund aufbauen zu können? Ach, übrigens, Alister, ich habe dich mehr als ein Jahr lang belogen; ich bin in Wirklichkeit ein Mitglied der königlichen Familie, die du so sehr verachtest. Es gibt zwar keine Zukunft für uns, aber ich würde immer noch gern mit dir befreundet sein.
Würde sie selbst mit Freundschaft zufrieden sein, wenn die Erinnerung an Hans Küsse und Zärtlichkeiten sie verfolgte?
Würden Amon und Han ihre gegenseitige Abneigung über Bord werfen können, um gemeinsam die Puzzlestücke ihres Verschwindens zusammenzusetzen?
Ihre Mutter war eine schwache Königin – aber es waren die Umstände gewesen, die sie in Schwierigkeiten gebracht hatten. Wenn Raisa zurückkehrte, konnte sie vielleicht eine Verbindung zu ihr aufbauen, sie unterstützen, ihr helfen und eines Tages selbst eine bessere Königin werden.
Weiter vorn sah sie eine Lücke zwischen den Bäumen, die darauf hinwies, dass sie sich der Straße näherten. Sie zügelte Ghost mit einiger Mühe und ließ ihn im Schritt gehen. Zwischen den letzten Bäumen machte sie einen Moment halt und blickte die Straße entlang nach rechts und links. Sie sah niemanden.
»Gehen wir«, sagte sie und gab ihm die Fersen. »Wir müssen noch ein gutes Stück vorankommen, bevor wir Pause machen können.« Sie wandten sich nach Norden, diesmal jedoch in einem Tempo, das sie länger durchhalten würden.
Nach fast einem Jahr kehrte sie nach Hause zurück. Die Entscheidung war ihr aufgezwungen worden. Aber mehr und mehr glaubte sie, dass es die richtige war.
KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
Getrennte Wege
E igentlich hatte Han die letzten Tage in Odenford dazu nutzen wollen, sich auf seinen Auftrag im Norden vorzubereiten. Jetzt jedoch verbrachte er seine Zeit damit, verzweifelt nach Hinweisen zu suchen, die vielleicht Rebeccas Verschwinden erklären konnten.
Niemand in Odenford kannte die Toten, die bei der Bibliothek von Wien House gefunden worden waren. Sie waren Fremde und keine Magier. Vor ein paar Tagen waren sie in der Akademie aufgetaucht, waren herumgelaufen und hatten Fragen gestellt. Entweder waren ihre Taschen von Anfang an leer gewesen, oder wer immer sie getötet hatte, hatte ihnen alles geraubt, was über sie Auskunft geben konnte.
Han schlüpfte in Micahs Wohnheim, das ihm von seinen vielen vorherigen Besuchen vertraut war, und sah sich in seinem Zimmer und denen der anderen um. Sie waren in aller Hektik aufgebrochen und hatten vieles, was ihnen gehörte, zurückgelassen.
Das konnte kein Zufall sein. Waren sie weggegangen, weil sie Rebecca umgebracht hatten? Oder hatten sie sie mitgenommen? Wie immer Han es auch zusammensetzte, es ergab einfach keinen Sinn. Drei der Toten waren durch Magie getötet worden. War Rebecca Zeugin der Morde gewesen und dann aus diesem Grund ebenfalls getötet oder verschleppt worden?
Am Morgen vor seinem geplanten Aufbruch ging Han nach Grindell House. Im Wohnheim ging es so geschäftig zu wie in einem Bienenstock – Kadetten liefen die Treppen rauf und runter und packten ihre Habseligkeiten zusammen.
Er traf Byrne im Gemeinschaftsraum. Die Blaujacke hatte etwas an militärischer Härte verloren – die Augen des Korporals waren von dunklen Ringen umschattet, und er hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert.
»Sieht aus, als wärt Ihr im Aufbruch«, sagte Han.
»Rebecca ist nicht mehr in dieser Gegend«, antwortete Byrne. »Ich glaube, sie ist nach Norden gegangen. Wir haben Nachricht aus Tamron Court erhalten, dass jemand, auf den Rebeccas Beschreibung passt, an der Grenze zwischen Tamron und Arden in einem Gefecht mit den ardenischen Streitkräften gesehen wurde. Wir
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