Das Exil Der Königin: Roman
durch die Große Zerstörung befreit worden waren.
Raisa wagte sich vorsichtig etwas näher an den Rand und spähte blinzelnd in die Tiefe. Es war, als würde sie in einen milchigen See blicken, dessen Ausmaße sich unter einem Mantel von Nebel verloren. Die Shivering Fens waren ein Ozean aus Gras und buschigen Bäumen, von denen keiner groß genug war, um durch die Wolken aus Bodennebel zu stoßen.
Sie zitterte; die Feuchtigkeit und die Aussicht, in diesen Nebel abzusteigen, brachte sie zum Frösteln. Die Fells behaupteten zwar die Herrschaft über die Shivering Fens, aber Raisa war noch nie dort gewesen, und soweit sie wusste, war auch Königin Marianna nie dorthin gereist. Wie konnten sie von einem Ort die Treue fordern, über den sie so wenig wussten?
Raisa sah jetzt die schwachen Spuren eines steinernen Pfades, der parallel zum Fluss verlief und in die Felswand gehauen worden war. Der Weg wurde offensichtlich nur selten benutzt. Oben auf der Klippe stand ein verlassenes Garnisonshaus, dessen Mauern verfallen waren, eingestürzt aufgrund des ständigen Wechsels von Frost und Tauwetter. Daneben befand sich ein kleiner Schrein, der Königin Regina gewidmet war. In der Mitte des Schreins erhob sich eine Marmorstatue, von Wind und Wetter gezeichnet, welche die furchtlose Königin mit zwei Säuglingen im Arm zeigte. Raisa machte das Zeichen des Schöpfers und kniete vor dem Altar der Königin im Unkraut nieder.
Wir müssen die alten Traditionen stärker ehren, dachte sie. Dies ist mein Blut, mein Erbe, das da so zugewachsen und vernachlässigt ist. Früher einmal haben wir über die gesamten Sieben Reiche geherrscht, und jetzt sind wir kaum in der Lage, ein einziges zu regieren.
Als sie mit dem Gebet fertig war und sich umdrehte, stellte sie fest, dass Amon neben sie getreten war. Er stand da, die Hände unter den Achseln, um sie zu wärmen, während der Wind seine Haare zerzauste. Er musterte die Felswand, als hätte er wirklich vor, dort abzusteigen.
»Ist das da eine Straße?«, fragte sie und erhob sich. Es war wohl kaum möglich.
»Das war so lange die einzige Straße, bis wir die neue gebaut haben. Die Wasserläufer benutzen keine Pferde, deshalb brauchten sie auch keine Straße, die für Pferde und Wagen geeignet ist.«
»Und du hast beim Bau der neuen Straße geholfen?«
»Ja. Mein Dad hat ihnen den Schweiß meiner Stirn als Gegenleistung dafür angeboten, dass ich die Gebräuche der Wasserläufer erlernen durfte.« Er machte eine Pause und kaute an der Unterlippe. »Die Wasserläufer haben ein System für Schulden und Bezahlung, dass sie Skyld nennen. Sie sind sehr stolz – es ist ihnen lieber, dass du in ihrer Schuld stehst als umgekehrt. Vor Jahren hat mein Vater Lord Cadri, dem Herrscher der Wasserläufer, das Leben gerettet, als er nach einem Jagdunfall zu verbluten drohte. Seither sucht er nach einer Möglichkeit, die Skyld zu begleichen, während mein Dad versucht, ihn in der Verpflichtung zu lassen. Nicht, weil er eine Rückzahlung erwartet, sondern weil es für die Fells von Vorteil ist. Mein Dad hat Lord Cadri gebeten, mich einen Sommer lang bei den Wasserläufern aufzunehmen. Damit hätte ein Teil der Schuld abgetragen werden können. Aber ich habe ihnen geholfen, die Straße zu entwickeln und zu bauen – also steht er nach wie vor in der Schuld meines Vaters.«
»Weiß Königin Marianna, dass es so was gibt?«, fragte Raisa.
Amon zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Aber ich bezweifle es. In Anbetracht des Kriegs in Arden und den Problemen zu Hause hat sie den Fens nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Dad versucht dafür zu sorgen, dass sie es auch nicht wissen muss. Und deshalb gefällt es mir ganz und gar nicht, dass es Ärger an der Grenze gibt.«
Raisa musste daran denken, dass ihre Mutter sie vor irgendwelchen Träumen bezüglich einer Verbindung mit Amon gewarnt hatte. Sie sind Soldaten , hatte die Königin gesagt, und das ist auch alles, was sie jemals sein werden.
Du hast keine Ahnung, was für einen Schatz du mit den Byrnes hast, Mutter, dachte Raisa.
»Wie kommen wir da runter?«, fragte sie und wischte sich die eiskalte Nässe aus dem Gesicht.
Amon kniete sich an den Rand des Überhangs und untersuchte einen verrosteten Metallapparat, der im Felsgestein verankert war. »Wir nehmen Seile, um uns zu sichern«, sagte er. »Es ist zu riskant, ungesichert runterzugehen.« Er drehte sich um und rief den anderen Wölfen Befehle zu, die daraufhin aufgerollte Seile
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