Das Exil Der Königin: Roman
Durchreise zu bitten.«
Der Wind wurde stärker, als die Dämmerung hereinbrach, und der Nebel wogte und wallte und bildete Wirbel, die wie unruhige Geister wirkten. Mehrmals glaubte Raisa, sie würde zwischen den Bäumen blasse Gesichter sehen, mit Augen wie dunkle Löcher, die in Leichentücher geschnitten worden waren. Es war eine Erleichterung, mit Talia und Hallie ins Zelt kriechen zu können und die eigenartige Landschaft auszuschließen.
Wie würde es sich wohl anfühlen, für immer hier zu leben, umgeben von Mauern aus Nebel?
Die Grauwölfe waren schon früh am nächsten Tag wieder auf den Beinen und brachen das Lager ab, ohne dazu aufgefordert werden zu müssen. Alle schienen nur eines zu wollen: auf die Pferde steigen und weiterreiten.
Hier unten war die Drynne ein vollkommen anderer Fluss. Während sie oberhalb der Wasserfälle rau und kraftvoll gewesen war, hatte sie sich jetzt in einen trägen, gemütlichen und breiten Strom verwandelt, der sich lustlos in die Nebenflüsse auf beiden Seiten ergoss.
Es war eine fremdartige Landschaft aus hohen Gräsern, die von Wasserwegen durchzogen war und keinen Hinweis darauf bot, wo sich fester Boden befand. Als hätten Riesen ein Stöckchen-Spiel gespielt, lagen überall umgestürzte Bäume herum, die jetzt verrotteten und von weißen, ledrigen Pilzen bedeckt waren. Der Nebel war über Nacht gefroren, und daher knirschte der Boden unter ihren Stiefeln. Eis überzog die stillen Teiche, jeden Grashalm, jeden Zweig und jeden Ast und verwandelte dieses Schwemmland in eine unwirkliche, farblose Welt.
»Früher war es hier trockener«, erklärte Amon. »Weiter flussabwärts haben sie den Tamron gestaut, und so ist das Wasser in dieses Feuchtgebiet gelangt. Das hat die Bäume getötet.«
Die Düsternis um sie herum war bedrückend. Nur wenige Schritte von ihnen entfernt konnte ein Feind lauern, ohne dass sie irgendeine Möglichkeit hatten, ihn zu erkennen. Darüber hinaus schien die Feuchtigkeit dämpfend zu wirken und den Schall zu verzerren, weshalb Raisa unmöglich sagen konnte, aus welcher Richtung ein Geräusch kam oder wie nah sie der Quelle war.
Ihre Zähne klapperten, und das kam nicht nur von der Kälte. Es war, als würde sie durch einen Albtraum gehen, in dem jeden Augenblick ein Dämon mit kalten Fingern nach ihr greifen und sie sich schnappen konnte, als Beute für den Großen Zerstörer. Die Kadetten blinzelten und strengten ihre Augen an; ihre Hände befanden sich immer in der Nähe ihrer Schwerter. Ihre übliche Fröhlichkeit war von der kühlen Feuchtigkeit ertränkt worden.
Nachdem sie eine halbe Stunde gegangen waren, kamen sie um eine Flussbiegung, und Rivertown erhob sich aus dem Nebel. Oder besser gesagt das, was von der Stadt noch übrig geblieben war.
»Beim Blut der Dämonen«, flüsterte Amon. »Wer könnte so etwas getan haben?«
Die Stadt war ohnehin nicht sehr groß gewesen – lediglich eine Ansammlung von einigen wackeligen Behausungen um einen kleinen Tempel herum am Fluss. Jetzt lag alles in Trümmern; die meisten Gebäude waren zerschlagen oder bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Ein paar Boote lagen leck am Fluss, ähnlich wie leere Krebsschalen, deren Hüllen durchbohrt oder zermalmt worden waren. Ein Haufen Hölzer löste sich vom Ufer und trieb allmählich weg – die Überreste von etwas, das einmal ein Kai gewesen war.
Die Grauwölfe stiegen ab und durchforsteten den Platz, suchten nach Spuren derjenigen, die einst hier gewohnt hatten. Immerhin fanden sie keine Leichen; allerdings konnten die auch ins Wasser geworfen oder von Überlebenden mitgenommen worden sein.
Amon bückte sich und nahm einen verrottenden Fischkorb aus Bindfäden und Ried vom Boden auf. Er drehte ihn in den Händen herum und stieß sanft mit dem Zeigefinger dagegen. »Nun, das hier war mal Rivertown«, sagte er grimmig. »Sieht allerdings so aus, als wäre seit zwei Monaten niemand mehr hier gewesen.«
»Glaubst du, dass sie angegriffen worden sind? Oder haben sie es selbst zerstört, bevor sie von hier weggingen?«, fragte Raisa.
Amon zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, aber ich vermute, dass sie angegriffen oder vertrieben worden sein müssen. Diese Leute hatten nicht viel Hab und Gut. Sie hätten alles mitgenommen, wenn sie gekonnt hätten.« Er blinzelte ein paar Tropfen weg, während er flussabwärts blickte. »Es könnten freie Arbeiter gewesen sein, die vom Süden hergekommen sind. Aber es wäre verdammt anstrengend gewesen
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