Das fahle Pferd
Testament im Somerset House nachgelesen. Legate für alte, langjährige Dienstboten und einige Patenkinder sowie eine lebenslängliche Rente für seine Frau – nicht besonders groß, gerade genug, um sorglos leben zu können. Der ganze übrige Nachlass, der sich auf eine sechsstellige Ziffer belief, fiel an seine Tochter Thomasina Ann bei Erreichung ihres einundzwanzigsten Lebensjahres oder bei einer Heirat vor diesem Zeitpunkt. Sollte sie vor diesem Termin sterben, ging das gesamte Vermögen an ihre Stiefmutter über, da andere Familienangehörige anscheinend nicht existierten.
Der Preis war hoch… und Mrs Tuckerton liebte das Geld, das zeigte sich in ihrer ganzen Art. Bestimmt hatte sie früher nie welches besessen, ehe sie den älteren Witwer heiratete. Und dann mochte es ihr zu Kopf gestiegen sein. An einen invaliden Ehemann gebunden, hatte sie sich wahrscheinlich nach der Zeit gesehnt, da sie frei sein würde und noch jung genug, um einen unermesslichen Reichtum zu genießen.
Das Testament muss eine große Enttäuschung für sie gewesen sein. Aber sollte ich wirklich glauben, diese aufgetakelte Blondine, die so harmlos über Nichtigkeiten plauderte, sei imstande gewesen, sich mit dem ›Fahlen Pferd‹ in Verbindung zu setzen, um ihre Stieftochter – umbringen zu lassen?
Auf jeden Fall musste ich das Thema aufs Tapet bringen. Ziemlich unmotiviert erklärte ich daher: »Ich glaube, ich habe Ihre Tochter… oder wohl eher Stieftochter, einmal kennen gelernt.«
»Thomasina? Ach, wirklich?« Sie blickte mich etwas überrascht, doch ohne sichtliches Interesse an.
»Ja, in Chelsea.«
»Ja, in dieser Gegend war sie wohl häufig.« Mrs Tuckerton seufzte. »Es ist so schwierig mit den jungen Mädchen heutzutage. Man hat nicht den geringsten Einfluss auf sie; das war auch ein ständiger Kummer für ihren Vater. Ich konnte natürlich noch viel weniger bei ihr erreichen, sie wollte nie auf das hören, was ich sagte.« Ein erneuter Seufzer. »Sie war ja fast erwachsen, als wir heirateten, und eine Stiefmutter…« Sie schüttelte den wohl frisierten Kopf.
»Das ist immer eine schwierige Lage«, nickte ich.
»Ich war sehr rücksichtsvoll und tat stets mein Bestes. Aber es nützte alles nichts. Sie machte mir das Leben wirklich schwer und daher war ich gar nicht unglücklich, als sie darauf bestand, das Haus zu verlassen. Aber der gute Tom litt darunter. Ich glaube, sie verkehrte in London in sehr unpassenden Kreisen.«
»Das vermutete ich beinahe«, warf ich ein.
»Arme Thomasina«, flüsterte Mrs Tuckerton. Dann blickte sie mich an. »Oh, vielleicht wissen Sie es gar nicht… Thomasina starb vor ungefähr einem Monat – ganz plötzlich, an einer Hirnhautentzündung. Eine Krankheit, die besonders junge Leute dahinrafft, wie ich mir sagen ließ. Es war wirklich traurig.«
»Ich hörte von ihrem Tod«, bemerkte ich. Dann stand ich auf. »Nochmals meinen verbindlichsten Dank, dass Sie mir das Haus gezeigt haben, Mrs Tuckerton.« Ich schüttelte ihr die Hand.
Erst beim Hinausgehen drehte ich mich um.
»Übrigens… Sie kennen ja wohl das ›Fahle Pferd‹, nicht wahr?«
In blankem Entsetzen starrte sie mich an. Ihr Gesicht sah plötzlich weiß und alt aus, die Stimme klang hoch und schrill: »Ein fahles Pferd? Was wollen Sie damit sagen? Ich weiß nichts, gar nichts über das ›Fahle Pferd‹.«
Ich zeigte harmlose Überraschung.
»Oh, entschuldigen Sie. Da muss ich mich geirrt haben. Es gibt ein altes, sehr interessantes Haus – in Much Deeping. Kürzlich war ich dort eingeladen. Es ist äußerst geschmackvoll restauriert und hat dabei die ganze Atmosphäre des 15. Jahrhunderts behalten. Ich glaubte, dort Ihren Namen gehört zu haben – aber wahrscheinlich handelte es sich um Ihre Stieftochter, die einmal das Haus besuchte.« Ich machte eine kleine Pause. »Das ›Fahle Pferd‹ ist wirklich – einmalig in seiner Art.«
Ich freute mich über diesen guten Abgang. In einem Spiegel in der Halle sah ich das Gesicht von Mrs Tuckerton, die mir nachstarrte. Sie war unsagbar erschrocken – und der Anblick war nicht gerade erfreulich.
25
» N un sind wir also unserer Sache sicher«, erklärte Ginger.
»Das waren wir schon vorher«, gab ich zurück.
»Ja, aber damit haben wir die Bestätigung.«
Wir schwiegen eine ganze Weile. Ich sah Mrs Tuckerton vor mir, wie sie nach Birmingham reiste, wie sie mit Mr Bradley sprach. Ihre nervöse Angst, seine Vertrauen erweckende Herzlichkeit. Und seine beruhigenden
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