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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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Schimmel schimmerte im Dunkelblau der Nacht vor den Augen des Eichmeisters Eibenschütz. Zwei Jahre – dachte er – zwei Jahre Glück sind ein Leben wert, zwei Leben, drei Leben. Er hörte das sanfte Klingeln.

XVIII
    In Zloczow machte man dem Jadlowker keineswegs einen kurzen Prozeß, wie man sagt, sondern, im Gegenteil, einen sehr langen. Angeklagt war er wegen Ehrenbeleidigung, wegen Amtsbeleidigung, wegen gewalttätigen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und, was das schlimmste war, wegen Gotteslästerung. Der Prozeß dauerte so lange, weil die Richter des Landesgerichts lange schon keinen so interessanten Prozeß gehabt hatten. Die Bezirksgerichte jener Gegend hatten viel zu tun. Lappalien und Prozesse. Der hatte jenem kein Geld gezahlt. Jener hatte den geohrfeigt. Die Bezirksgerichte in jener Gegend hatten viel zu tun. Denn es gab zum Beispiel Menschen, eine gewisse Sorte von Menschen, die sich ohrfeigen ließen, freiwillig und mit Wonne. Sie besaßen die große Kunst, ein paar Männer, die ihnen aus dem oder jenem Grunde böse gesinnt waren, so lange zu reizen, bis sie Ohrfeigen bekamen. Hierauf gingen sie zum Bezirksarzt. Der stellte fest, daß man ihnen weh getan hatte, und manchmal auch, daß ihnen ein Zahn ausgefallen war. Das nannte man: »Visum rapport«. Hierauf klagten sie. Sie bekamen Recht und Entschädigung. Und davon lebten sie jahrelang.
    Dies nur nebenbei. Das war auch nur die Sache der Bezirksgerichte. Die Landesgerichte aber hatten beinahe gar nichts zu tun in jener Gegend. Wenn ein Mord oder gar ein Raubmord vorkam, so wurde er von der Polizei nicht aufgedeckt. Aber es gab überhaupt wenig Mörder oder gar Raubmörder in jener Gegend. Es gab nur Betrüger. Und da sie fast alle Betrüger waren, zeigte keiner den andern an. Das Landesgericht hatte also so wenig zu tun, daß es das Bezirksgericht nahezu beneidete. Also war es froh, als es den Fall Jadlowker zu behandeln hatte.
    Vor allem galt es, viele Zeugen zu vernehmen. Denn alle Inhaber der Standplätze auf dem Markt meldeten sich als Zeugen. Sie bekamen nämlich die Hin- und Rückreise bezahlt und außerdem die Zeugengebühr, eine Krone, sechsunddreißig Heller.
    Da sie der Meinung waren, daß sie die volle Zeugengebühr nicht erhalten könnten, wenn sie etwas Günstiges für den Angeklagten Jadlowker aussagen würden, sagten sie nur Ungünstiges. Sogar die Frau Czaczkes, die doch eigentlich den ganzen Prozeß verursacht hatte, sagte aus, sie sei vom Eichmeister Eibenschütz sowohl als auch vom Gendarmeriewachtmeister Slama äußerst gütig und menschlich behandelt worden.
    Der Staatsanwalt erhob die Anklage wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und wegen Gotteslästerung.
    Der Eichmeister Eibenschütz und der Wachtmeister der Gendarmerie hatten es unter Diensteid bestätigt.
    Der Verteidiger Jadlowkers dagegen gab den Geschworenen zu bedenken, daß ein Eichmeister, eigentlich ein Angestellter der Gemeinde, kein Recht hatte, den Jadlowker nach der Konzession zu fragen. Ferner hatte sich der Eichmeister an der Person des Jadlowker vergriffen, indem er sich anmaßte, ihn zu verhaften und ihn sogar zu fesseln. Drittens ferner hätte Jadlowker mit seiner Gotteslästerung gar nicht Gott im allgemeinen, den allmächtigen Gott gemeint, sondern den Gott im besonderen: nämlich den Gott der Beamten: »Euer Gott!« hätte er gesagt.
    Es erwies sich aber leider außerdem, daß Jadlowker aus Odessa geflüchtet war und daß er einst, vor vielen Jahren, einen Mann mit einem Zuckerhut erschlagen hatte.
    Für den Gang der Gerichtsverhandlung unbedeutend, wenn auch nicht ohne Eindruck, war die Zeugenaussage der Freundin Jadlowkers, des Fräulein Euphemia Nikitsch. Die Feierlichkeit des Gerichts verhinderte sie nicht, mit einer geradezu maliziösen Freundlichkeit auszusagen, daß sie ihren Freund, den Leibusch Jadlowker, immer schon für einen jähzornigen und vor allem ungläubigen Menschen gehalten hätte.
    Ohnmächtig, zwischen zwei Wächtern, saß der arme Jadlowker auf der Anklagebank. Nicht nur, daß er sich nicht verteidigte, es fiel ihm auch gar nicht ein, daß er sich überhaupt verteidigen könnte. Man hatte sein ganzes Leben durchstöbert. Man hatte herausgebracht, daß er aus Rußland eingewandert war. Man hatte ferner herausgebracht, daß er einst, vor vielen Jahren, einen Mann in Odessa umgebracht hatte, mit einem Zuckerhut.
    Er aber hatte mehrere und nicht einen umgebracht, und deshalb schwieg er. Er hieß auch gar nicht Jadlowker,

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