Das Falsche in mir
Sie?«
»Das sollte kein Vorwurf sein. Angeklagte in Mordfällen sagen oft nicht aus.«
»Es hätte alles noch schlimmer gemacht, glauben Sie mir.«
»Ich bin sicher, dass Sie recht haben. Würden Sie mir jetzt die Mappe geben?«
»Was werden Sie damit machen?«
»Das Richtige. Darauf können Sie sich verlassen.«
»Ich hätte damals darüber schreiben sollen. In meinem ersten Buch. Dann wäre alles anders gekommen.«
»Warum haben Sie es nicht getan?«
»Ich wollte keine Mandantengeheimnisse veröffentlichen.« Makula lächelt schief, steht plötzlich auf, drückt Sina die Mappe in die Hand und bringt sie zur Tür, als hätte er es eilig, als erwartete er Besuch. Dabei ist Sina sicher, dass ihn schon lange niemand mehr besucht hat.
3
Psychologisches Gutachten
Betrifft: Psychologische Begutachtung von Lukas Kalden, männlich, geboren am 3.4.1961
Vater: René R. Kalden, Diplomingenieur, Jahrgang 1932
Mutter: Andrea Kalden, geborene Feilitzsch, Jahrgang 1936
Bruder: Hanno, Jahrgang 1965
Lukas Kalden wurde begutachtet von: Dr. med. Luzia Savatzki, Fachärztin für Psychiatrie, in insgesamt 4 Sitzungen à 180 Minuten.
1. Sitzung am 3.3.1978
Lukas Kalden, im Folgenden L. K. genannt, wirkt ernst, aber weder unsicher noch nervös. Seine Haltung ist auffallend gerade, dabei entspannt und für einen Jugendlichen seines Alters beherrscht und diszipliniert. Sein Blick ist offen und sehr direkt, seine Sprache gemessen. Er artikuliert wohlüberlegt wie ein Erwachsener, kein Jugendjargon. Er lächelt kein einziges Mal. Er bewegt sich wenig, gestikuliert kaum. Seine Außenwirkung scheint ihm egal zu sein. Er weicht nicht aus. Er charmiert nicht, er zeigt kein Selbstmitleid, er gibt dem Opfer keine Schuld. All das ist sehr untypisch für einen Straftäter seines Profils. Normalsind Kennzeichen einer ausgeprägten Psychopathie: Charme, manipulatives Talent, Mangel an Empathie.
Ich erkundige mich zunächst nach seinen Interessen, nach der Situation in der Strafvollzugsanstalt, nach seiner aktuellen Befindlichkeit. Jede Frage beantwortet er, ohne zu zögern. Die Umstände in der Untersuchungshaft scheinen ihn kaum zu berühren. Er scheint nicht zu leiden. Wenn ich dringlicher nachfrage, weicht er aus und erzählt Anekdoten aus dem Gefängnisalltag.
Er verfügt über einen scharfen Blick für absurde Details, den man mit Humor verwechseln könnte.
…
2. Sitzung am 8.3.1978
Wir tasten uns nun an seine Kindheit heran. Es ist jetzt sehr deutlich festzustellen, dass seine scheinbare Offenheit keine ist; sie bezieht sich lediglich auf die Fakten, die er auf Nachfrage erschöpfend erläutert. Seine Gefühle dahinter sind nicht wahrzunehmen: Er will sich nicht in die Karten schauen lassen.
Abgesehen davon scheint L.K.s Jugend unauffällig gewesen zu sein. Nicht liebevoll, aber auch nicht bösartig. So berichtet L. K. ohne sichtbare innere Regung von seiner Mutter, die oftmals nicht in der Lage war, die Familie zu versorgen, schon gar nicht in gefühlsmäßiger Hinsicht.
…
Sein Vater ist laut L. K. beruflich erfolgreich und heute wie damals viel unterwegs, auch imAusland. Auch von ihm bekam L. K. offenbar wenig bis gar keine emotionale Unterstützung.
…
Es gab eine Kinderbetreuerin, die wohl auch so etwas wie eine Haushälterin war, ganz wird das nicht klar, obwohl L. K. auf alle anderen Detailfragen präzise und ausführlich antwortet. Nur wenn er von ihr spricht – sie wurde Tante Grete genannt, den richtigen Namen kennt L. K. nicht –, werden bei ihm Emotionen spürbar, und zwar vorwiegend negativer Natur.
L. K. berichtet von einem ausgeprägt sadistischen Temperament, von Strafen, die auf subtile Art brutal waren: »Einmal musste ich mich zwei Stunden lang ohne Anorak und Schuhe vor die Haustür stellen, obwohl es regnete und kalt war.« Auf die Frage nach dem Grund antwortet er: »Weil ich mich nicht für etwas entschuldigen wollte, das ich nicht getan hatte.« Mehr will er zu diesem Vorfall nicht sagen, auch nicht, wofür er sich entschuldigen sollte und wer der tatsächlich Schuldige war; es handelt sich aber wohl um eine sehr spezielle Erinnerung, die ihn immer noch und immer wieder beschäftigt. Zum ersten Mal erlebe ich ihn nervös, sein Blick wird unstet, seine Gesichtsfarbe dunkler.
…
Wir sprechen über seine Schulzeit, sein Verhältnis zu Lehrern und Mitschülern. Er berichtet, nun wieder ohne emotionale Regung, über seine Antipathie gegenüber Gleichaltrigen. Seine Aussage erinnert an eine
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