Das Falsche in mir
alle unter einer Decke, alle. Der Richter, der Staatsanwalt, die Anwaltskammer …«
»Wie kommen Sie darauf?«
Makula sieht sie mit einem merkwürdigen Blick an. »Deswegen sind Sie doch hier, oder nicht?«
»Ich bin hier wegen eines Gutachtens.«
»Eben. Das Gutachten, das nicht zugelassen wurde. Niemanden hat das damals interessiert. Interessiert es Sie?«
»Ja.«
In dem Raum wird es plötzlich still. Sinas Blick fällt auf eine Bronzeskulptur, einen Adler mit ausgebreiteten Schwingen, der sich an einem Ast festkrallt.
»Was stand da drin?«, fragt Sina eher beiläufig, denn sie weiß, je eindringlicher der Tonfall, desto nervöser werden Befragte und desto eher neigen sie dazu dichtzumachen.
Makula lehnt sich zurück, lächelt, lässt sie zappeln. Er kennt das Spiel noch – von früher. Aber Sina kennt es auch. Ruhig erwidert sie seinen lauernden Blick. Die Gutachterin ist vor drei Jahren gestorben, Makula ist der Einzige, der ihr Auskunft geben kann.
»Wollen Sie etwas trinken?«
»Nein, danke.«
»Ich habe erstklassigen Earl Grey Tee. Oder einen Espresso macchiato?«
»Wirklich nicht, danke. Herr Makula, wenn Sie ohnehin nichts wissen, können wir das hier auch abkürzen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich möchte Ihnen ungern Ihre Zeit stehlen. Vielleicht beenden wir das am besten.«
Es entsteht wieder eine Pause, in der beide einander mustern. Schließlich steht Makula auf und geht zu einem breiten Rollschrank aus hellem Holz, der neben dem Bücherregal steht. Er bückt sich und öffnet den Schrank mit einem Schlüssel, zögert dann und scheint wieder zu überlegen.
Sina wartet.
Schließlich holt Makula einen Aktenordner aus dem Schrank, legt ihn auf den Esstisch aus Pressspan, der geformt ist wie ein verzogenes Rechteck. Damals war das ein Designwagnis, heute sieht es lächerlich aus. Makula klappt den Ordner auf, holt eine Mappe aus grünlichem Papier heraus.
»Das Gericht hat das Gutachten nicht zugelassen«, sagt Sina. »Warum nicht?«
Makula legt die Mappe auf den Tisch. »Es standen Dinge drin, die ihnen nicht gepasst haben. Sie haben so getan, als genüge das Gutachten nicht den formalen Anforderungen. Aber das war gelogen.«
»War die Gutachterin erfahren? Hatte sie einen guten Ruf?«
»Oh ja, sie hatte vor Lukas Kalden schon an die dreißig Gutachten für Strafverfahren, auch in Mordfällen, erstellt. Sie galt als unkonventionell, das schon. Sie hat sich verständlich ausgedrückt, kein Fachchinesisch, keine wichtigtuerischen Abkürzungen, die vor Gericht erst lang und breit erklärt werden müssen. Sie war eine Koryphäe. Deswegen wollte ich sie, obwohl sie teuer war.«
»Können Sie sich die Reaktion des Gerichts erklären?«
»Der Richter wollte nichts hören. Er hatte sich seine Meinung schon gebildet.«
»War er befangen?«
Makula hat sich wieder hingesetzt, stützt den Kopf in die Hände. Draußen dämmert es, ein milder Wind treibt Regenschauer an die Panoramafenster.
»Keine mildernden Umstände«, sagt Makula schließlich in seine Hände hinein. Sina fällt auf, dass die Nägel sorgfältig geschnitten und manikürt sind, eine Seltenheit bei Männern, die allein leben.
»Sie meinen, sie waren von Anfang an gegen Kalden eingestellt?«
»Das können Sie laut sagen. Nur nichts Entlastendes, bitte schön! Richter und Staatsanwalt hätten Lukas am liebsten lebenslänglich hinter Gitter gebracht. Die haben sich unglaublich geärgert, dass er noch nicht achtzehn war und damit nur eingeschränkt strafmündig!«
»Das ist eine harte Anschuldigung. Woraus schließen Sie das?«
»An ihrem ganzen Verhalten, dieser absoluten Gnadenlosigkeit, an der Art, wie sie mich behandelt haben. Sie haben Kalden gehasst. Am liebsten hätten sie noch schnell das Gesetz geändert. Die wollten ihn wegsperren. Für immer.«
»Das behaupten Sie jetzt einfach so. Gab es Entlastungszeugen? Irgendjemanden, der ihn mochte, der für ihn ausgesagt hätte und den das Gericht abgelehnt hat?«
Makula denkt nach. Schließlich schüttelt er den Kopf.
»Niemanden?«, fragt Sina noch einmal.
»Das war ja das Problem«, sagt Makula. »Er hatte keine Freunde. Nicht einmal seine Eltern mochten ihn.«
»Er selbst hat nicht ausgesagt.«
»Nein, ich habe ihm abgeraten. Es war sein gutes Recht, nicht auszusagen.«
»Natürlich.«
»Ich habe ihm abgeraten, weil alles, was er gesagt hätte, seine Lage noch schlimmer gemacht hätte. Lukas hatte … Er war einfach keine gewinnende Persönlichkeit, verstehen
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