Das Falsche in mir
das eine Rolle? Uns ist es egal, uns verbindet derselbe Traum von etwas, das größer und mächtiger ist als wir, als alles, was existiert. Es gibt keinen Gott, Gott ist eine Theorie, sagt Lukas, aber es gibt ganz sicher den Tod. Ich begebe mich unter den Schutz seiner schwarzen Flügel, sage ich zu Lukas.
…
10. Oktober 1977
Heute ist der Tag. Es ist der Tag, der unser Leben beendet. Ich bin glücklich, so glücklich. Lukas bekommt mein Tagebuch. Wir haben vereinbart, dass er es verbrennt und mir dann nachfolgt. Er hat mir versprochen, es nicht zu lesen, sondern es sofort zu verbrennen, wenn ich nicht mehr bin.
Ich vertraue ihm.
Ich bin glücklich.
Danke.
4
Ich habe eine Einzelzelle, die ich nicht verlassen muss, das ist mein Glück. Männer wie ich haben wenige Freunde im Knast. Ich habe also viel Zeit. Ich bin von allem abgeschnitten. Mein Computer wurde mir nicht genehmigt, auch keine Zeitungen und kein Fernseher: Sie wollen nicht, dass ich über mich lese, und ich soll auch nicht mit der Außenwelt kommunizieren.
Bücher sind allerdings erlaubt.
Also lese ich viel. In der Gefängnisbibliothek habe ich Karl Poppers ›Die Quantentheorie und das Schisma der Physik‹ entdeckt. Keine Ahnung, wie es so ein Buch ausgerechnet an diesen Ort geschafft hat; es muss aber zumindest von einigen Personen gelesen worden sein, denn es gibt jede Menge Eselsohren und einige Seiten sind fleckig.
Ich nehme es mit in die Zelle und schlage es auf einer beliebigen Seite auf.
Wenn ich das richtig verstanden habe, kritisiert Popper in seinem Buch den sogenannten »Instrumentalismus«, also die Ansicht, dass wissenschaftliche Theorien nur mehr oder weniger nützliche Regelwerke sind, um die Messergebnisse von Experimenten zu beschreiben oder vorherzusagen. Daraus würde folgen, dass solche Theorien nicht tatsächlich wahr oder falsch sind, also weder verifizierbar noch falsifizierbar wären. Ich bin überrascht, denn eigentlich liegt für mich diese Unterscheidung auf der Hand. Versteht es sich nicht von selbst, dass Theorien wahr oder falsch sein können und dass sie schon deshalb nicht von alltäglichem Nutzen sein können, weil sie lediglichauf einer Annahme beruhen? Kann es jemanden geben, der diese Selbstverständlichkeit leugnet?
Ich erinnere mich an meine Probleme, die ich schon immer mit dem Verständnis berühmter Philosophen hatte. Entkleidet man sie ihrer komplizierten Begrifflichkeit, bleiben oft Binsenweisheiten übrig.
In diesen Situationen sehne ich mich manchmal … nein, nicht nach einem Freund mit all den emotionalen Implikationen. Eher nach dem Austausch mit einem Geistesverwandten, vielleicht sogar nach einem Lehrer, einem Mentor, einem Coach, der meine intellektuellen Defizite erkennt und beseitigt. Nach meinem Prozess werde ich eine Anzeige mit entsprechendem Inhalt aufgeben. Vielleicht findet sich ein Mensch, der ähnlich einsam ist wie ich, nur aus völlig anderen Gründen, und der Freude daran hat, mir etwas beizubringen.
Das ist meine einzige Hoffnung: Dass die ausschließliche und intensive Auseinandersetzung mit den geistigen Fragen dieser Welt mir mein Leben bis zum ersehnten Tod erträglich macht.
Im Moment lebe ich in vollkommener Isolation. Niemand will mich sehen, nicht Birgit, nicht die Kinder, nicht einmal ein Anwalt, denn ich habe keinen. Ich will keinen, es gibt nichts mehr zu sagen. Alles, was ich zu sagen habe, habe ich der Polizei gesagt. Zum Prozess wird mir ein Pflichtverteidiger gestellt werden, aber bis dahin werde ich schweigen, zu allem schweigen.
Ich lege mich auf das schmale Bett. Der Komfort hat sich seit den Siebzigerjahren erheblich verbessert. Das Bett hat eine Federkernmatratze, auch wenn sie hart ist, es gibt keine Kopfkeile mehr, sondern richtige Kissen, und Steppdecken statt kratziger Wolldecken. Ich habe eine abgetrennte Nasszelle mit Waschschüssel und Toilette. Ich darf meine Mahlzeiten in der Zelle einnehmen und muss nicht arbeiten, zumindest nicht bis zum Prozess.
Es gibt auch ein großes Fenster, das ist wunderbar. Der Ausblick auf das Karree der Gefängnisgebäude aus rotem Backstein ist zwar nicht berauschend, aber zumindest kann ich den verhangenen Himmel sehen, die Regentropfen, die gegen die Scheibe trommeln, den schmelzenden Schnee auf den Dächern.
Mein Leben wird hier enden. Ich bin nicht glücklich darüber, aber da ich auch in Freiheit kein sonderlich zufriedener Mensch war, dürfte ich damit wohl zurechtkommen.
Nach etwa einer Woche bekomme
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