Das Falsche in mir
die wir zu verfolgen haben, wie eine Vene, die zum Herzen führt. Wir müssen uns an sie heften wie ein Bluthund, sonst haben wir unseren Beruf verfehlt.
Ich: »Wann haben Sie gemerkt, dass Sie Marion lieben?«
L. K.: »Von Anfang an.«
Diese Antwort kommt prompt und überraschend, und es ist die erste in den bisherigen Sitzungen, die spontan und unkontrolliert wirkt, als wäre sie ihm herausgerutscht.
Ich: »Es war Liebe auf den ersten Blick?« L. K.: »Ja.«
In diesem Moment ist sein Blick nackt, und das wirkt bestürzend, weil der Kontrast zu seiner normaler weise beherrschten Mimik so groß ist.
Ich: »Sie haben aus Liebe getötet, nicht wahr?«
L. K.: »Nein!«
Ich: »Bitte erzählen Sie mir, wie es war.«
Er fragt mich stattdessen, ob ich die Telefonnummer von seinem Anwalt hätte. Ich antworte ihm, dass das natürlich der Fall sei, Herr Makula habe mich ja beauftragt. Er sagt, ich könne Herrn Makula ausrichten, dass ich Marions Tagebücherhaben könne. Er wirkt aufgewühlt, seine Hände zittern, sein Atem geht stoßweise, seine Stirn ist schweißbedeckt.
Die einzige emotionale Regung L. K.s erfolgte auf die Frage nach der Art seiner Beziehung zum Opfer. Insofern liegt die Schlussfolgerung nahe, dass er wirklich glaubte, sie zu lieben. Dass diese Liebe auf Gegenseitigkeit beruhte, erfahren wir aus den nachfolgenden Tagebucheintragungen des Opfers, die ich in meinem Gutachten zitiere.
Meine Schlussfolgerung: Ein wesentliches Mordmerkmal (Heimtücke) scheidet aus. Totschlag im Affekt ebenfalls – die Tat war geplant – ersichtlich aus den Tagebucheintragungen des Opfers. Meine Beurteilung des Straftatbestandes lautet: Geplanter erweiterter Suizid.
4. Sitzung am 23.3.1978
Ich zitiere im Folgenden die zum Verständnis der Vorfälle wichtigsten Passagen aus Marion Wellershoffs Tagebuch. Das Original befindet sich wieder bei Dr. jur. Gregor Makula und kann jederzeit vom Gericht eingesehen werden.
2. Februar 1977
Ich bin schwanger.
3. Februar 1977
Ich war beim Arzt. Ich bin in der dreizehnten oder vierzehnten Woche. Ich bin schwanger von Lukas. Der Arzt hat gesagt, für eine Unterbrechung sei es zu spät. Eine medizinische Indikation bestehtauch nicht. Er hat mich besorgt angesehen. Warum kommen Sie erst jetzt, hat er gefragt.
Ich habe nichts gemerkt. ICH HABE NICHTS GEMERKT, DAS SCHWÖRE ICH!
Die Periode war da. Sehr leicht, aber sie war da. Und mir war nie schlecht, nie! Der Arzt hat den Kopf geschüttelt. Das kann vorkommen, hat er gesagt, aber ich habe ihm angesehen, dass er mir nicht glaubt.
ABER ES IST WAHR!
…
8. März 1977
Sie haben mich nach dem Zwischenzeugnis aus der Schule genommen, bevor man etwas sieht. Mama weint den ganzen Tag. Blöde Kuh. Jetzt bin ich zu Hause, sehe niemanden. Mama weint und sorgt dafür, dass ich mich schäme.
Und es ist ihr gut gelungen.
Ich fresse den ganzen Tag und habe schon fünf Kilo zugenommen. Ich bin hässlich und schäme mich.
…
9. April 1977
Ich bin fett. Eine fette, hässliche Kuh. Ich will niemanden sehen. Alles ist kaputt. Ich hasse das Wesen in mir, das das mit mir macht. Nein, ich liebe es, es ist von Lukas. Nein.
…
Sie haben mich überredet, das Kind zur Adoption freizugeben.
…
14. Juli 1977
Es ist da. Und es ist weg. Ich will gar nicht wissen, wo. Ich bin so traurig.
…
16. August 1977
Ich bin wieder schlank, als wäre nichts gewesen. Aber mein Körper ist mir so lästig. Ich möchte ihn loswerden.
…
Ich möchte ein Geistwesen sein.
Frei.
…
18. September 1977
…
Ich habe Lukas getroffen. Ich bin zu ihm hingefahren und habe so lange geklingelt, bis er aufgemacht hat. Ich habe sein Gesicht gesehen und wusste, ich liebe ihn und ich würde für ihn sterben.
…
Ich konnte ihm das mit dem Kind nicht sagen. Ich weiß nicht mal, wo es ist.
…
20. September 1977
Wir sind wieder zusammen, aber die Verzweiflung ist nicht kleiner geworden. Er ist alles, was ich habe, aber es ist nicht genug.
…
Ich habe mein Kind weggeben. Die Entscheidung kann ich nicht rückgängig machen. Die Schuld ist so groß, größer als ich.
…
Ich kann es ihm nicht sagen. Er darf es nicht erfahren.
…
30. September 1977
Ich will sterben. Sterben. Ein wunderschönes Wort. Wenn ich es sage, werde ich glücklich. Ich sehe mich tot. Wenn Lukas mich ritzt, weine ich vor Freude, weil der Weg dahin immer kürzer wird und wir ihn gemeinsam gehen werden. Wir beide wollen sterben, nicht aus denselben Gründen, aber spielt
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