Das Falsche in mir
»Leander Kern hat mein WLAN geknackt?«
»Möglicherweise. Dazu musste er sich nur mit einem Laptop in die Nähe Ihrer Wohnung begeben. Dann hat er sich unter Verwendung Ihres Internetanschlusses eingeloggt und unter dem Namen Leander Kern einen Facebookeintrag geschrieben – den ersten Eintrag, dessen Adresse wir ermitteln konnten. Ihre Adresse. Wir sollten glauben, Leander Kern seien Sie.«
»Und? Glauben Sie es?«
»Wir haben nach den Angaben Ihrer Tochter ein Phantombild anfertigen lassen. Wollen Sie es sehen?«
Ich kann nur nicken. Etwas in mir hat Wurzeln geschlagen, sehr zarte Wurzeln, ein winziges schwaches Pflänzchen namens Hoffnung. Rastegar löst die Arme, bückt sich mit einer geschmeidigen Bewegung und greift in die Aktentasche neben ihrem Stuhl, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Im nächsten Moment legt sie mir vier Zeichnungen von vier verschiedenen dunkel gelockten jungen Männern vor und fordert mich auf, diejenige herauszupicken, die Leander Kern zeigt.
Ich deute sofort auf die zweite von rechts, drehe das Bild auf der Tischplatte um hundertachtzig Grad und schiebe es hastig zu ihr zurück. Leanders Augen scheinen mich zu durchbohren; es ist, als könnten sie das Papier in Brand setzen.
»Okay«, sagt sie. Und dann noch einmal, wie zu sich selbst:»Okay.« Und dann, vermutlich für das Aufnahmegerät: »Lukas Salfeld deutet auf die Zeichnung, die nach den Angaben von Teresa Salfeld angefertigt wurde.« Sie nimmt die Zeichnungen an sich und packt sie wieder ein.
Ich sehe überrascht, dass sie Tränen in den Augen hat.
»Sie haben einen Sohn«, sagt sie. »Er heißt René Richard Kalden, so wie Ihr Vater. Und wie Sie.«
Es stimmt. Mein zweiter Vorname ist René, mein dritter Richard.
»Dr. Savatzki hat es Ihnen erzählt, erinnern Sie sich?«
»Was?«
»Dass Marion von Ihnen schwanger war. Dass sie einen Sohn geboren hat, den sie zur Adoption freigegeben hat.«
»Vielleicht.«
»Sie haben es ihr nicht geglaubt. Sie haben gedacht, sie tut das, um Sie weichzukochen.«
»Sie hatte ihre Tricks.«
»Sie wollten es damals nicht hören, war es nicht so? Es hätte alles noch schlimmer gemacht.«
Die Wahrheit ist wie eine Ohrfeige. Aber sie schlägt mich diesmal nicht zu Boden, sie macht mich wach und klar.
»Sie erlitten in ihrer Praxis eine Art Zusammenbruch. Es war eine seelische Ausnahmesituation, Sie haben alles herausgesprudelt, chaotische Erinnerungen, speziell eine Erinnerung, die Sie vermutlich jahrelang verdrängt hatten …«
»Eine Erinnerung?«
»Sie wissen, wovon ich spreche, oder?«
»Hören Sie auf damit. Das hat keinen Sinn.«
»Sie waren damals noch sehr klein, vielleicht drei Jahre alt. Sie befanden sich in einem Laufstall in ihrem Kinderzimmer. Im Wohnzimmer nebenan war es sehr laut. Ihr Vater hatte Gäste. Sie haben lautes Männerlachen gehört und sind aus ihrem Ställchen geklettert. Wahrscheinlich wusste Ihr Vater nicht, dass Sie dazu bereits in der Lage waren. Sie sind aus Ihrem Ställchengeklettert, haben ihre Spielkiste vor die Tür gestellt und sind draufgestiegen. Durch das Schlüsselloch haben Sie beobachtet, wie Ihr Vater und seine Gäste Masken trugen und jemanden jagten. Sie hörten eine Mädchenstimme weinen, aber Sie konnten das Mädchen nicht sehen. Sie konnten nur ihre Angst hören.«
In mir ist alles ruhig. Ich verstehe jedes Wort, aber der Inhalt erreicht mich nicht. Ich sehe in allen Einzelheiten vor mir, was Rastegar mir schildert, ich weiß, dass all das wirklich passiert ist, aber es ist mir so egal, als würde ich es in einem Film sehen, den ich jederzeit wegschalten kann. So ist es all die Jahre lang gewesen. Ich habe keinen Zugang mehr, es ist, als sei ich damals jemand anderes gewesen, ein anderes Kind, das sich gefürchtet hat, nicht ich, der niemals Angst hat.
»Sie haben damals noch nicht verstanden, was passierte, aber Sie haben gewusst, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie sind wieder in Ihren Laufstall gestiegen und hörten noch stundenlang das Geschrei, das Gestöhne und das Gelächter. Sie haben geweint, aber leise, damit Sie niemand hört.«
»Ja«, sage ich und fühle nichts.
»Vielleicht ist das die schlimmste Angst, die es gibt. Die Angst, bei der man den Auslöser nicht kennt.«
»Möglich«, sage ich.
»Luzia Savatzkis Gutachten wurde möglicherweise nicht zugelassen, weil sowohl der Richter, als auch der Staatsanwalt bei diesen Spielen dabei gewesen sind.«
Das erscheint mir logisch. Aber es berührt mich
Weitere Kostenlose Bücher