Das Falsche in mir
und aus ihrer Sicht wäre alles in Ordnung.
»Würden Sie mich reinlassen?«, fragt Sina so höflich und nett wie sie nur kann, aber doch mit einem autoritären Unterton.
»Nein«, sagt die Salfeld, macht aber die Tür nicht zu.
»Dann muss ich Sie vorladen. Sie sind eine wichtige Zeugin.«
Sina weiß nicht, wie oft sie diese Phrase schon gesagt hat. Birgit Salfeld presst die Lippen zusammen. Sina kann sehen, wie es in ihr arbeitet. Dann fällt mit einem Knall die Tür zu.
Sina wartet. Nach ungefähr einer Minute macht Birgit Salfeld die Tür wieder auf, hält aber die Klinke in der Hand und hat sich so postiert, dass man nicht an ihr vorbeikommen kann, ohne sie anzurempeln.
Sina wartet wieder.
Jeder verhält sich anders in so einer Situation, manche weinen, manche tun so, als sei nichts, aber alle geben den Ermittlern die Schuld. Das ist normal, hat sie festgestellt. Man gibtimmer anderen die Schuld. Auch wenn man vor sich selbst und den anderen so tut, als würde man bereuen, im Hinterkopf hat man doch immer die Idee, dass es die Umstände waren oder der Ehemann oder die Ehefrau oder die Schwiegereltern oder der Chef oder die Kinder oder die Gesellschaft.
Oder das Opfer.
»Können Sie einen Schritt zurücktreten, ich komme sonst nicht an Ihnen vorbei«, sagt Sina schließlich.
Je normaler man sich verhält, desto leichter wird es.
»Ach Scheiße«, sagt Birgit Salfeld. Ihr Körper entspannt sich, sie lässt die Klinke los und steht jetzt leicht gekrümmt und mit hängenden Armen da, wie eine Marionette, die der Puppenspieler fallen gelassen hat. Sina fällt auf, dass sie abgenommen hat.
Sie trägt eine graue Jogginghose und darüber einen Sweater in derselben Farbe, und beides sieht aus, als wäre es mindestens eine Nummer zu groß. Ihr Gesicht ist schmaler geworden, und zwei scharfe Falten ziehen sich von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln, die beim letzten Mal noch nicht da waren oder jedenfalls nicht so aufgefallen sind. Von irgendwoher in der Wohnung klingt plötzlich laute Popmusik mit dröhnenden Bässen.
Sina ignoriert das, aber Birgit Salfeld dreht den Kopf in Richtung einer Tür und schreit: »Mach das sofort leiser, Teresa«, ohne Sina aus den Augen zu lassen, als wäre sie ein bissiger Hund, den man nur mit einem Blick in Schach halten kann.
Die Musik wird kein bisschen leiser, und Birgit Salfeld lässt die Schultern weiter sinken. Die beiden Frauen stehen immer noch in der dämmerigen Diele. Schließlich, als der Krach langsam unerträglich wird, winkt Birgit Salfeld und geht voraus in die Küche, mit schlurfenden, müden Schritten, als wäre ihr jede Bewegung zu viel.
Sie macht die Tür hinter ihnen zu.
»Wollen Sie Tee, Kaffee?«, fragt sie.
Sina schüttelt den Kopf. »Setzen Sie sich einfach hin«, schlägt sie vor. »Es dauert auch nicht lange.«
Wieder eine Phrase, von der sie weiß, dass sie etwas Tröstendes hat. Nicht lange – das heißt, es ist alles nicht so dramatisch, keine große Affäre, etwas, das sich schnell aus der Welt schaffen lässt. Leute öffnen sich bei dieser Aussicht, sie sind erleichtert, selbst dann, wenn sie genau wissen, dass es nicht stimmt.
Es ist erst Sinas zweiter Besuch hier, wenn man nicht mitrechnet, dass Gronberg und sie noch mal hochgekommen sind, nachdem Lukas Salfeld geflüchtet war. Sie sind dann gleich dageblieben und haben telefonisch einen Durchsuchungsbeschluss angefordert, während die beiden Töchter am Küchentisch ihre Cornflakes mampften und die Kommissare anstarrten, als kämen die vom Mond. Sina war das beinahe peinlich, vor allem wenn sie bedachte, was jetzt noch auf die Familie zukommen würde, ohne dass einer von ihnen darauf vorbereitet war.
Aber so ist es ja meistens. Durchsuchungen werden plötzlich angeordnet und dann sofort durchgeführt. Es gibt keine Möglichkeit, vorher aufzuräumen, sonst wäre die ganze Aktion sinnlos. Eine Durchsuchung ist also noch unangenehmer als man denkt – unvorstellbar unangenehm. Man muss sich gefallen lassen, dass die intimsten Gegenstände plötzlich gar nicht mehr intim sind, sondern mögliches Beweismaterial und damit für Polizei und Staatsanwaltschaft zugänglich, man muss mit der Unordnung klarkommen, mit dem Chaos, das Polizisten und Spurensicherung anrichten und natürlich nicht wieder aufräumen. Man muss akzeptieren, dass Computer und andere persönliche Gegenstände beschlagnahmt werden und dass man sie unter Umständen erst nach Tagen wiederbekommt oder gar nicht mehr. Man
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