Das Falsche in mir
Tür.
Panik steigt wie schmutziger Nebel aus dem Bauch in den Kopf, verdüstert meine Sinne und Gedanken. Plötzlich bin ich nicht mehr in der Lage, die vielen Gesichter voneinander zu unterscheiden. Es kommt mir vor, als sähen alle gleich aus – hübsch, jung, gleichgültig, gnadenlos.
Ich hole tief Luft und die Angstattacke löst sich langsam auf. Ich versuche, in Bewegung zu bleiben, kämpfe mich zurück zur Bar. Rastegar schaut in meine Richtung, streift mein Gesicht, aber ihr Ausdruck bleibt leer und suchend. Entweder sie erkennt mich tatsächlich nicht oder sie ist eine großartige Schauspielerin.
Die große Uhr über der Theke zeigt halb eins, und es wird noch ein wenig schummriger. Offenbar ist es üblich im »Jensen«, um diese Zeit das Licht weiter zu dämpfen. Als letzte Chance für die weniger Attraktiven, diese Nacht nicht allein verbringen zu müssen.
Ich trinke ein weiteres Bier, halte unauffällig Ausschau nach Kollegen Rastegars, aber bei dieser Beleuchtung ist das unglaublich schwierig. Es überwiegt jetzt rotes und blaues Farblicht. Jedes Gesicht wirkt geheimnisvoll, fast anonym, wie eine Hoffnung, ein unklares Versprechen an die Sinne.
Ich bezahle wieder das Bier, schlage den Kragen meiner Lederjacke hoch und drücke mich hinter Rastegars Rücken vorbei,die immer noch alleine dasteht und die Menge mustert. Sie müsste sich nur umdrehen und würde mir direkt in die Augen schauen. Sie tut es nicht.
Schließlich bin ich draußen. Ich gehe einfach nach rechts, sehe mich nicht um, mein Nacken ist steif in der Erwartung eines festen Griffs, eines lauten Rufs, einer Waffe, die sich mir in den Hals bohrt, aber nichts passiert, ich bleibe völlig unbehelligt.
Eine halbe Stunde später bin ich zurück in der Pension, wieder allein mit mir und meinen Gespenstern.
Am nächsten Morgen frage ich an der Rezeption, ob es WLAN gibt – tatsächlich gibt es das, sogar kostenlos. Ich gebe das ellenlange Passwort ein, klappe noch im Bett meinen Laptop auf und gehe auf das Onlineportal unserer Tageszeitung.
Ich habe bislang vermieden, den Computer zu benützen, aber es gibt für mich keine anderen Möglichkeiten, an Informationen zu kommen; in diesem Zimmer steht nicht einmal ein Fernseher.
Ich sehe, dass ich achtundvierzig E-Mails habe. Ich öffne sie nicht.
Keine Neuigkeiten über den Mord an Anne, auch nicht in der landesweiten Presse.
Ich rauche bei offenem Fenster. Nachts hat es geschneit, eine dünne Schneedecke liegt auf der Straße. Es scheint glatt zu sein, ich sehe, wie Leute mit falschem Schuhwerk ins Rutschen geraten.
Ich setze mich wieder aufs Bett und google den Namen Johansson.
Johansson Leyden Stargarder Straße 82.
Nichts.
Dann aber finde ich einen Facebookeintrag von einer Silvia Johansson aus Leyden. Ich klicke Bilder von ihr an. Es ist die Richtige, ohne jeden Zweifel. Sie sieht so schön aus, dass mirfast übel wird. In ihrem Profil steht, dass sie Musik mag; es folgen einige ihrer Lieblingsbands. Für mehr Informationen muss ich mit ihr befreundet sein, erklärt mir Facebook.
Ich melde mich unter Carl Mulisch bei Facebook an, dem Namen eines längst verstorbenen Onkels. Mein Alter gebe ich mit achtzehn an, ziehe mir das Bild eines jungen, hübschen, namenlosen Mannes aus einer Bildagentur im Netz und stelle es in mein Profil.
Es ist verblüffend einfach, eine Sache von wenigen Minuten.
Ich erfinde einen Schulnamen außerhalb von Leyden. In der Spalte »Über mich« schreibe ich, dass ich Snowboard fahre und gern lese. Dann sichte ich Silvias Freunde. Sie hat 484, eine absurd hohe Zahl, von denen sie vielleicht ein Viertel wirklich kennt. Ich suche mir fünf Mädchen und vier Jungen aus und schicke jedem von ihnen eine Freundschaftsanfrage.
Ich bin optimistisch. Carl Mulisch ist nicht nur sehr attraktiv, er wirkt auch sympathisch. Außerdem heißt es ja immer, dass Jugendliche auf dieser Plattform nicht sonderlich wählerisch sind.
8
»Sie schon wieder«, sagt Birgit Salfeld. Sie linst durch den Türspalt wie eine alte Frau, die sich vor Einbrechern fürchtet. Sina Rastegar weiß, dass sie die Polizei nicht ausstehen kann, und Birgit Salfeld weiß, dass Sina weiß, dass das ungerecht ist. Nicht die Polizei hat einen Mord begangen, sondern ihr Mann. Deshalb ist er verdächtig.
Andererseits hat die Polizei tatsächlich ihr Leben zerstört. Hätte Gronberg die Verbindung nicht hergestellt, wäre Salfeld jetzt im Büro, sie in der Redaktion, die Kinder wären in der Schule,
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