Das Falsche in mir
grobschlächtigen Botschaften.
Ich bin ein Außenseiter, jemand, der sich von niemandem vereinnahmen lässt. Ich bin auf eine unaggressive Art komplett desinteressiert an den Belangen meiner Mitschüler und wirke deshalb angenehm unaufdringlich und wahrscheinlich auch ein bisschen geheimnisvoll. Mädchen überlegen, woran sie mit mir sind, ein paar verlieben sich vielleicht sogar in mich, weil sie mich nicht einschätzen können. Ich behandle jede von ihnen gleichermaßen freundlich, weil ich gegen keine etwas habe und mich für keine begeistern kann.
In meiner Freizeit höre ich klassische Musik und lese viel. Ich mag es, in die Gedankenwelt anderer einzutauchen, mich fremden Ideen hinzugeben, neue Gefühlswelten zu entdecken, schon weil meine eigene so beunruhigend ist, dass ich mich lieber nicht mit ihr befasse. Ich träume von Haut, Blut, schneeweißenKnochen und tiefen Schnitten, obwohl ich eine so normale und so abartige Erziehung genossen habe wie die meisten anderen Kinder auch.
Niemand hat mich geschlagen oder missbraucht. Es ging mir nicht gut und nicht schlecht, ich habe nur früh genug gemerkt, dass ich auf mich allein gestellt war. Mein Vater war beruflich meistens unterwegs und ließ meine Mutter mit zwei Kindern allein, die sie einst widerwillig unter höllischen Schmerzen auf die Welt gebracht hatte, wie sie nie aufgehört hat, zu betonen, und für deren Bedürfnisse sie sich nicht im Geringsten interessierte.
Ein paar Tage nach meinem fünften Geburtstag kam Tante Grete zu uns, weil meine Mutter irgendwann nur noch auf dem Bett lag, sich bedienen ließ und viel weinte.
Tante Grete sollte einen Haushalt, der diesen Namen nicht mehr verdiente, wieder auf Vordermann bringen. Dass sie uns gleich mit übernahm, war meiner Mutter ganz recht und meinem Vater egal. Aber auch Tante Grete kann ich nicht verantwortlich machen. Obwohl sie war, wie sie war: ein besonderer Mensch. Besonders hinterhältig und grausam.
Es hat ihr zum Beispiel gut gefallen, wenn man Angst vor ihr hatte. Je weniger Mittel sie dafür einsetzen musste, desto zufriedener kam sie mir anschließend vor. Heute sehe ich sie als Puristin, die sich auf die Kunst des Quälens spezialisiert hat. Reine physische Brutalität war ihr zu banal, auch wenn sie die natürlich in allen Spielarten beherrscht hat. Vielleicht hat sie mich schon deshalb gehasst, weil meine Unfolgsamkeit ihr genau die Waffen aufgezwungen hat, derer sie sich eigentlich nicht mehr bedienen wollte.
Ihre Lieblingsmethoden waren viel subtiler: Kälte, Schweigen, zur Schau getragene Betroffenheit. Darin war sie wirklich gut.
Tante Grete konnte den Satz »Ich bin furchtbar traurig und sehr enttäuscht von dir« auf eine Weise sagen, dass selbst ich,der ihre Manöver von Anfang an zu durchschauen glaubte, nur noch ihre Vergebung ersehnte. Nur wenn nichts anderes geholfen hat, gab es Hiebe mit der Reitgerte auf die nackte Haut. Schnell wie der Blitz, effizient wie eine Peitsche: Wenn man schrie, war alles schon vorbei und Tante Grete wieder auf dem Weg nach draußen. Eine gespenstische Erfahrung: Während einem die Tränen in die Augen schossen, zweifelte man bereits daran, ob alles gerade wirklich passiert war.
Doch nun bin ich fünfzehn, Tante Grete ist schon lange weg und ihre sadistischen Erziehungsmethoden sind aus der Mode gekommen. Manchmal überlege ich, wen sie außer mir noch gequält haben könnte und ob sie jetzt arbeitslos ist. Vielleicht ist sie in einen südamerikanischen Folterstaat ausgewandert. Dort sind ihre Begabungen sicher von unschätzbarem Wert.
Unsere Familie braucht sie jedenfalls nicht mehr. Meine Mutter schluckt mittlerweile Tabletten, die sie einigermaßen funktionieren lassen, mein Vater ist wie üblich meistens auf Geschäftsreise.
Und ich bin verliebt.
Die Liebe zwischen Marion und mir entwickelt sich mit aufreizender Langsamkeit. Zu einer Zeit, als uns die Klassenkameraden alle schon als Paar betrachten, haben wir uns noch nicht einmal berührt. Stattdessen: Gespräche. Wir reden und reden. Hauptsächlich über Bücher – sie will mir Hermann Hesses und Carlos Castanedas mystische Welten nahebringen, ich versuche, sie zu Franz Kafka zu bekehren. Beide bleiben wir erfolglos. Ich halte ihre Favoriten für geschwätzig, sentimental und verlogen, sie findet Franz Kafka verstiegen, trübsinnig und kalt. Aber das macht uns nichts aus. Wir sind so jung, dass wir immer noch an die Kraft der Argumente glauben.
Marion wirkt verschlossen, aber
Weitere Kostenlose Bücher