Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Falsche in mir

Das Falsche in mir

Titel: Das Falsche in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Bernuth
Vom Netzwerk:
aus dem Schließfach, wo ich die Zeitungen verstaue, um keinen Verdacht zu erregen.

18
    Die Zeitungen lese ich an Vassilis’ Küchentisch. Meine Stimmung sinkt von Zeile zu Zeile. Es ist, wie ich es befürchtet habe: Vassilis wird mir kein Alibi geben können, Karen – auch sie ist schlank und hübsch und trägt einen blonden Pagenkopf – ist bereits seit vier Tagen verschwunden. Also genau seit dem Tag, an dem ich aus der Bahnhofspension geflohen bin und Silvia verfolgt habe.
    Karens Leiche wird auftauchen, sie wird genauso zugerichtet sein wie die tote Anne, und eine Stadt wird noch fieberhafter als bisher einen Täter suchen: mich.
    Ich zünde mir eine Zigarette an und ziehe den Rauch so hastig und tief in die Lunge, dass mir schwindlig wird. Ich nehme einen Schluck von Vassilis’ scheußlich schmeckendem Kaffee, drücke die Zigarette achtlos in der Untertasse aus, zünde mir eine neue an. Nikotin, Teer und unzählige weitere Schadstoffe kratzen im Hals und lösen einen neuen Hustenanfall aus, der mich schüttelt, direkt danach nehme ich wieder einen Zug.
    In mir herrscht Aufruhr und gleichzeitig fühle ich mich so unwirklich ruhig wie im Auge eines Wirbelsturms.
    Ich muss nachdenken, sage ich mir, denke aber nicht nach, sondern lasse es zu, dass mich Erinnerungen überschwemmen, die mich belasten, aber nicht weiterbringen, weil all das, was damals passierte, mit meinem heutigen Ich nichts mehr zu tun hat.
    Ich bin jetzt ein anderer. Ich glaube fest daran.
    Ich, sechzehn Jahre alt, hochmütig, belesen, intelligent, rhetorisch begabt, hervorragender Schüler, seltsam bis zur Abartigkeit, werde in meinem Klassenraum verhaftet und abgeführt.
    Das Gesicht meines Mathematiklehrers, dessen Lieblingsschüler ich bin, weil ich als einer der wenigen aus dieser Klasse Begeisterung für die kühle, klare, komplexe Materie der Zahlen aufbringen kann: grau vor Entsetzen.
    Noch heute sehe ich Oberstudienrat van de Wetering vor mir, mit seinen schlecht sitzenden Gabardinehosen, die an den Bügelfalten speckig glänzen, seinem fast schneeweißen Haarkranz um die Glatze voller bräunlicher Altersflecken, seinem zaghaften Versuch, mir etwas Ermutigendes auf den Weg mitzugeben: »Es wird sich alles aufklären«, ruft er mit dünner Stimme hinter mir her, den Kreidestummel in der Hand.
    Vor Gericht ist er der Einzige aus meiner Schule, der an der Verhandlung nicht nur wegen des Spektakels teilnimmt. An vielen Prozesstagen wird die Öffentlichkeit sowieso ausgeschlossen, sitze ich allein vor dem Richter, den Schöffen, den Anwälten.
    Ich erinnere mich genau an den Geruch nach poliertem Holz, Leder und Schweiß. Mir wird regelmäßig schlecht davon. Trotzdem bin ich immer noch lieber hier als im Gefängnis. Obwohl mich alle anstarren wie ein Monster, mir die Fotografen ins Gesicht blitzen, mir Reporter Fragen zuschreien, die ich nicht beantworten darf.
    Ich rieche das Entsetzen und die Freude am Entsetzen. Ich höre, wie sie über mich reden, auf Schulhöfen, an Abendbrottischen, in Büros, bei Rendezvous, zu Kaffee und Kuchen. Mein Anwalt berichtet mir, dass ich Stadtgespräch sei, als wäre das etwas, worauf ich stolz sei könnte.
    Er ist selbst noch sehr jung, es ist sein erster Fall dieser Art. Nach meiner Verurteilung wird er sich auf solche Fälle spezialisieren, später ein reißerisches Buch darüber schreiben, viel Geld damit verdienen und aus der Anwaltskammer ausgeschlossenwerden, weil er mehrfach das Anwaltsgeheimnis gebrochen hat.
    Die schlimmsten Momente: als Marions Eltern und ihre Schwester Sophie aussagen, gebrochen und hasserfüllt meine Blicke meidend. Als meine Eltern als Zeugen auftreten und nicht in meine Richtung sehen, als wäre ich ein Fremder oder gar nicht da. Als Tante Grete vor Gericht erscheint, immer noch hochgeschlossen, immer noch mit derselben absurden Frisur und kein bisschen gealtert in den acht Jahren, seitdem wir uns das letzte Mal als unversöhnliche Feinde begegnet sind.
    Als Einzige sieht sie mich direkt an, triumphierend, weil sie recht hatte, weil sie als Erste das Böse in mir gesehen hatte. Sie deutet mit dem Finger auf mich:
    Ich habe es immer gewusst.
    Ich hole meinen Laptop aus seiner Hülle, schließe ihn an und gebe Vassilis’ WLAN -Kennwort ein. Ich habe mittlerweile dreiundsechzig ungelesene E-Mails. Online erfahre ich, dass Karen auf dem Weg zu einem »bekannten Club« war, wo sie sich mit Freundinnen verabredet hatte, aber nie aufgetaucht ist.
    Es gibt nur einen bekannten

Weitere Kostenlose Bücher