Das Falsche in mir

in unsere klasse kamst, und da hattest du noch zöpfe, die vorwitzig abstanden wie bei pippi langstrumpf, und sofort musste ich dich lieben. viele haben dich geliebt und sich eingebildet, sie würden dich verstehen, aber sie haben dich nicht verstanden, das konnte nur ich, weil ich alle seiten von dir gesehen haben, nicht nur die, die du nach außen gezeigt hast, nicht nur die, die alle sehen sollten, sondern die dunklen geheimnisse, die du nur mit mir geteilt hast.
    Anne, die nicht mehr die ist, die sie für mich war. das recht auf unseren namen hast du verwirkt, aber ich verzeihe dir angesichts der tragischen umstände, und ich erkenne an, dass du besonders warst und bliebst. dein gang war der einer fröhlichen ballerina, deine traurigkeit war magisch, und in dieser traurigkeit haben wir uns gefunden. ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie wir auf meinem bett liegen und musik hören. wir reden nicht viel, aber wir verstehen uns ohne worte. du bist die königin meines herzens. warum musstest du mich täuschen und verlassen, warum hast du meine liebe mit füßen getreten, warum hast du die dunkle rose unserer tiefen gefühle nicht erblühen lassen, warum hast du dich den feinden angeschlossen? denen, die dich nicht verstehen, den oberflächlichen schönrednern, die deine tiefe nicht sehen und nicht ermessen können.
    ich kann nicht fassen, dass du mich so enttäuscht hast. ich habe dir den weg geebnet, und als er glatt geharkt war, bist du ihn ohne mich weitergegangen. nun bist du wie alle anderen und lässt mich allein zurück.
    das war der anfang vom ende. du hast dich verloren und mich mit.
    wir sehen uns wieder, aber wann?
    Ich tippe Pippi Langstrumpf ins Suchfenster von Facebook, ohne mir allzu viel zu erwarten.
    Es taucht eine T-Shirt-Firma auf.
    Ich verfolge den Blog weiter zurück. Briefe über Briefe, manchmal bemüht witzig, meistens aber mit mahnendem Unterton, oft sogar aggressiv und fast immer an Leute gerichtet, die Felidae enttäuscht, verärgert oder verlassen haben.
    All diese Kränkungen werden so ausführlich mit all ihren traurigen Details geschildert, als wollte sich Felidae selbst Salz in die Wunden streuen. Eine Antwort kommt nie, obwohl es nach jedem Brief eine Kommentarfunktion gibt, die man anklicken kann. Zwischendurch schreibt Felidae auch an Filmschauspieler, Popsänger und Schriftsteller. Auch sie haben Felidae enttäuscht, in der Regel mit Leistungen, die nicht an die Erwartungen herankamen, die die jeweiligen Prominenten in Felidae geweckt haben.
    Ich gehe weit zurück, mehr als ein Jahr, aber der Name Anne taucht nicht mehr auf.
    Ich rauche. Etwas entgeht mir, das spüre ich deutlich. Ich fahre mit dem Cursor nach oben und nach unten, lasse mich immer weiter hineinziehen in diese Litanei der Vergeblichkeit, vergesse fast, warum ich das tue und was ich suche.
    wir hätten gemeinsam die welt aus den angeln heben können, aber du hast es vorgezogen, den geraden weg der konvention weiterzugehen …
    deine stimme wurde laut und übertönte dein herz, das es besser wusste. Du hast mir den dolch in den rücken gestoßen und dich am hervorsprudelnden blut ergötzt …
    gestern ging ich hinter dir her, du hast dich umgedreht, deine augen wurden stumpf, und dann hast du so getan, als würdest du mich nicht erkennen, als gäbe es mich gar nicht, als wäre ich eine nullexistenz in deinem universum der aufgeblasenheit …
    warum bist du so? was habe ich dir angetan …
    Wie kann sich jemand so entblößen vor einer so riesigen Gemeinde? Wie kann jemand so einsam sein, dass sich niemandder Millionen und Abermillionen Adressaten berufen fühlt, zu antworten?
    Ich gehe noch ein paar Monate weiter zurück, bis an den Anfang des Blogs. Der allererste Brief ist an eine Nuri gerichtet, der nächste und übernächste auch, und diese Anschreiben unterscheiden sich so fundamental von den übrigen, dass ich neugierig werde.
    Insgesamt gibt es fünf Schreiben an Nuri. Sie sind fröhlich, beinahe euphorisch, es wird auf gemeinsame Erlebnisse Bezug genommen – eine Radtour, Spaziergänge, Kinobesuche. Nuri wird mehrmals als Blutsschwester tituliert, und diese Briefe sind mit Michalis unterschrieben.
    Dann gibt es eine lange Pause, fast zwei Monate.
    Nuri taucht nie mehr auf.
    Draußen dämmert es bereits, und ich schenke mir ein Glas von Vassilis’ französischem Wein ein. Wieder geht ein Tag zur Neige, an dem eine ganze Stadt auf der Suche nach mir ist. Ich tippe den Namen Nuri in die